Obwohl ein Großteil der Bevölkerung die steigende ökonomische Ungleichheit als problematisch ansieht, ist es im politischen Prozess schwierig, eine stärkere Besteuerung der Reichen durchzusetzen. Woran liegt das aus Sicht der Politiker*innen?
eit den 90er Jahren können wir eine steigende Ungleichheit in Deutschland beobachten. Diese Entwicklung wurde unterstützt durch eine Reihe an Steuerreformen zugunsten reicher Haushalte. Der Spitzensteuersatz ist gesunken, die Vermögensteuer wurde ausgesetzt und die Erbschaftsteuer so ausgehöhlt, dass gerade die Top-Vermögenden kaum einen Beitrag leisten. Dies geschah, obwohl sich in Umfragen immer wieder zeigt, dass ein Großteil der Bevölkerung die steigende Ungleichheit als problematisch ansieht und einer höheren Besteuerung von Reichen positiv gegenübersteht. Warum ist es also so schwierig, die Reichen höher zu besteuern?
In der Forschungsliteratur werden verschiedene Faktoren genannt, die zu einer Abschwächung der progressiven Steuersysteme führten: Lobbyismus, der globale Steuerwettbewerb, eine unentschlossene öffentliche Meinung oder die Unwissenheit der breiten Öffentlichkeit beim Thema Steuern. All diese Faktoren sind wichtig, sind aber nichts, was außerhalb des politischen Prozesses steht. Die Faktoren werden vielmehr durch Politiker*innen verarbeitet, in den Prozess miteingebracht und so wiederum geformt. Die Frage ist also: Wie nehmen Politiker*innen diese Faktoren wahr? Welche Hürden identifizieren Politiker*innen selbst?
Um das herauszufinden, haben Florian Fastenrath, Paul Marx, Achim Truger und ich 25 politische Akteure interviewt, die in unterschiedlichen Positionen an steuerpolitischen Prozessen beteiligt waren oder sind. Dabei haben wir uns auf Finanzpolitiker*innen der SPD konzentriert, da diese eine höhere Besteuerung von Reichen fordert. Zugleich war die SPD in den vergangenen Jahren mehrfach an der Regierung beteiligt, womit sie die Möglichkeit hatte, Steuererhöhungen umzusetzen. Zur Triangulation der Aussagen haben wir zusätzlich Politiker*innen der CDU, der FDP, der Grünen und der Linken sowie Vertreter*innen von Lobbyorganisationen und Gewerkschaften interviewt. Die Ergebnisse dieser Interviews haben wir in einem Artikel zusammengefasst, der vor kurzem im Journal of European Public Policy veröffentlicht wurde.
Organisierte Interessen, oder: Lobbyismus als Hürde in der Steuerpolitik
Fast alle befragten Akteure betonen die Rolle von organisierten Interessen als besondere Hürde für progressive Steuerreformen. Dabei agieren die Lobbyorganisationen eher subtil. Die Einflussnahme geschieht meist durch den langjährigen Aufbau von Netzwerken. Durch die Komplexität des Steuerthemas sind viele Abgeordnete zudem auf einen Informationsaustausch mit Wirtschaftsvertreter*innen angewiesen.
Bild-Verteilaktion der INSM zur Kampagne „Steuern runter!“ am 23.06.2017 in Berlin von INSM, CC BY-ND 2.0, via Flickr.com.
Gewerkschaften, die potentiell einen Gegenpol zur Wirtschaftslobby darstellen könnten, haben keine ausreichenden Kapazitäten und Kompetenzen im Steuerbereich. Hier konzentriert man sich eher auf Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Der Einfluss von Lobbyorganisationen ist dabei nicht nur eine Hürde an sich, sondern beeinflusst und verstärkt andere Hürden in der Steuerpolitik. So werden Journalisten aktiv in die Netzwerke miteinbezogen und mit Informationen versorgt. Das wirkt sich auf die öffentliche Meinung aus.
Die öffentliche Meinung, oder: das „Verliererthema“
Obwohl es in einigen Umfragen eine hohe Zustimmung zu einer höheren Besteuerung von Reichen gibt, stellt sich das in der konkreten Auseinandersetzung anders dar. Viele der befragten Politiker*innen berichten davon, dass Menschen befürchten, von Steuererhöhungen für Reiche selbst betroffen zu sein. Dies führen sie auf Lobby-Kampagnen zurück, die Steuererhöhungen skandalisieren. Steuererhöhungen werden mit Jobverlusten und schwachem Wirtschaftswachstum verknüpft. Der Bevölkerung fehle es zudem an Grundwissen über das Steuersystem, wodurch die Anti-Steuer-Kampagnen auf fruchtbaren Boden fallen würden.
Die linken Politiker*innen problematisieren zudem, dass sie sich diesem Diskurs nicht effektiv entgegenstellen können. Zum einem sind die Kapazitäten und Ressourcen der Wirtschaftslobby wesentlich größer. Zum anderen erschwere das fehlende Steuerwissen der Bevölkerung eine Kommunikation von komplexen Steuerreformen. Während es den Lobbyorganisationen gelinge, eine simple Botschaft über einen langen Zeitraum zu vermitteln, fehle es der politischen Linken in Deutschland an einer einheitlichen langfristigen Kommunikation.
Der Teufelskreis fehlender Steuerkompetenz
Zwar spielt eine progressive Steuerpolitik bei linken Parteien immer wieder eine Rolle, stellt aber selten die eigentliche Priorität dar. Linke Parteien fokussieren sich stattdessen auf die Arbeitsmarkt- oder Sozialpolitik: „Wer für die SPD in den Bundestag kommt, will in Arbeit und Soziales und dort Hartz IV abschaffen“. Für den Finanzausschuss dagegen wird nach Mitgliedern gesucht, während es bei der CDU und FDP Wartelisten gibt.
Daraus ergibt sich eine Art Teufelskreis. Fehlende Kompetenz in der Steuerpolitik schwächt das Selbstbewusstsein, in der öffentlichen Debatte für Steuererhöhungen zu argumentieren. Das wiederum führt dazu, dass sich die Bundestagsabgeordneten in anderen Bereichen spezialisieren und es damit zu keinem Kompetenzaufbau kommt. Während also der Mindestlohn ein Herzensthema der Sozialdemokraten war und ist, sind Steuererhöhungen für Reiche vielleicht Nice-To-Have, mehr aber auch nicht. Immer wieder lässt sich feststellen, dass die im Wahlprogramm geforderten Steuererhöhungen während der Koalitionsverhandlungen für andere Projekte geopfert werden.
Der Teufelskreis fehlender Steuerkompetenz
Gleichzeitig schafft es geschickte Lobbyarbeit, die Kompetenzzuschreibung im Bereich der Steuer- und Wirtschaftspolitik allein bei denen zu verorten, die Steuersenkungen fordern. Progressive Steuerpolitik wird so als schlechte Wirtschaftspolitik wahrgenommen, im Zweifel riskiert man dadurch Jobverluste. Steuerpolitik wird von vielen als riskantes Thema für Wahlkampagnen gesehen. Daher geht man lieber auf Nummer sicher und stellt die Steuerpolitik in den Hintergrund.
Parteisozialisation und motivierende Narrative
Das Problem der fehlende Steuerkompetenz hängt auch mit der Sozialisation in linken Parteien zusammen. Diese sind geprägt durch Interaktionen mit anderen Parteimitgliedern. Der Aktivismus wird motiviert durch bestimmte Narrative. Für die deutsche Linke sind die durch Sozialausgaben, Arbeitsmarktpolitik, Frieden und Ökologie bestimmt. Steuern sind jedoch kein Thema, das Engagement motiviert. Darüber hinaus argumentieren viele der Politiker*innen, dass der SPD in der Steuerpolitik keine Kompetenz zugesprochen wird. Daher konzentriert man sich auf das sozialdemokratische Kernthema der Sozialausgaben. Diese Argumentation ist nachvollziehbar.
Die Autorin
Jedoch sind Kompetenzzuschreibung und die thematische Verantwortungsübernahme dem politischen Prozess nicht äußerlich und können durch die Parteien selbst geformt werden. Zudem hätte die politische Linke die Möglichkeit, die Steuerpolitik an Themen zu knüpfen, in denen sie thematische Verantwortung übernimmt, wie z.B. beim Thema soziale Gerechtigkeit.
Falsche und wahre Präferenzen?
Die Politiker*innen beschreiben, dass die entscheidenden Machtprozesse bereits vor der Entscheidungsfindung in der öffentlichen politischen Debatte stattfinden. Wenn die Präferenzen der Wähler*innen bereits im Vorhinein durch Wirtschaftsinteressen beeinflusst worden sind, wie soll ein Politiker*innen diese dann im politischen Prozess repräsentieren? Soll er die uninformierten, gar manipulierten Präferenzen seiner Wählerschaft vertreten oder die Vorschläge voranbringen, die der Wählerschaft vermeintlich wirklich zum Vorteil sind? Die Frage, was wahre oder falsche Präferenzen sind lässt sich nur schwer beantworten. Die Politiker*innen müssen sich dieser aber immer wieder stellen.
Politische Möglichkeiten für Steuererhöhungen
Bedeutet das, dass es keine Möglichkeiten für Steuererhöhungen für Reiche gibt? Tatsächlich sehen konservative und liberale Politiker*innen sowie Wirtschaftsvertreter*innen die Situation positiver als viele Politiker*innen der linken Parteien. Zum einem geben sie zu, dass sie das Thema Ungleichheit ernstnehmen müssen und nicht pauschal Steuersenkungen durchsetzen können. Zum anderen erkennen sie Potenzial darin, mit Steuererhöhung für Reiche Mehrheiten in der Bevölkerung zu erreichen, indem man zum Beispiel eine solche Erhöhung an eine Steuersenkung für die unteren Einkommen koppelt.
Schlusssatz
Kurz zusammengefasst
Obwohl in Umfragen immer wieder herauskommt, dass eine höhere Besteuerung von Reichen in Deutschland Unterstützung finden würde, führt dies nicht zu Politikreformen. Warum ist das so? Um herauszufinden, welche Hürden hier aus Sicht von Politker*innen im Weg stehen, wurden politische Akteure interviewt, wobei der Schwerpunkt auf SPD-Finanzpolitiker*innen lag. Fast alle befragten Akteure wiesen auf die Rolle von organisierten Interessen als Hürde für progressive Steuerreformen hin. Es fehle in der Bevölkerung zudem an Grundwissen über das Steuersystem, weshalb die Anti-Steuer-Kampagnen leicht funktionieren könnten. Dazu würde in der Partei steuerpolitische Kompetenz fehlen, was das Selbstbewusstsein in der öffentlichen Debatte schwäche. Das wiederum führe dazu, dass sich die Bundestagsabgeordneten in anderen Bereichen spezialisieren und es zu keinem Kompetenzaufbau komme. Statt das vermeintliche „Verliererthema Steuern“ anzugehen, konzentriere man sich eher auf sozialdemokratische Kernthemen. Die Politiker*innen beschreiben, dass die entscheidenden Machtprozesse also bereits vor der Entscheidungsfindung in der öffentlichen politischen Debatte stattfinden. Sie seien vor die Herausforderung gestellt: Wenn die Präferenzen der Wähler*innen bereits im Vorhinein beeinflusst worden sind, wie soll ein/e Politiker*in diese dann im politischen Prozess repräsentieren?