Die ökonomische Ungleichheit steigt seit den 1980er Jahren quasi überall. Aber Ungleichheit ist nicht gleich Ungleichheit. Wie sie aussieht, hängt vom jeweiligen Kapitalismustyp ab.
n einem kürzlich von der Socio-Economic Review zur Publikation akzeptierten Artikel betrachten Jan Behringer und ich die Entwicklung der Einkommensungleichheit in verschiedenen Kapitalismustypen.
Die Vergleichende Politische Ökonomie unterscheidet traditionell zwischen liberalen Marktwirtschaften und koordinierten Marktwirtschaften. Liberale Marktwirtschaften wie die USA oder das Vereinigte Königreich zeichnen sich u. a. durch eine stärkere Shareholder Value- Orientierung, dezentrale Lohnverhandlungen und einen eher schlanken Sozialstaat aus. In koordinierten Marktwirtschaften wie Deutschland oder den skandinavischen Ländern spielt die Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmensverbänden und Gewerkschaften eine wichtigere Rolle, Lohnverhandlungen sind stärker zentralisiert und die öffentliche Daseinsvorsorge ist stärker ausgebaut.
Interessanterweise ist der Gini-Koeffizient der Haushaltsmarkteinkommen in den beiden Ländergruppen im neoliberalen Zeitalter (circa 1980–2007, also die Jahrzehnte vor der Globalen Finanzkrise) in etwa gleich stark gestiegen (Abb. 1, Slide 1). Der Gini-Koeffizient ist ein häufig verwendetes, aber sehr grobes Maß für die Einkommensverteilung.
Interessanterweise ist der Gini-Koeffizient der Haushaltsmarkteinkommen in den beiden Ländergruppen im neoliberalen Zeitalter (circa 1980–2007, also die Jahrzehnte vor der Globalen Finanzkrise) in etwa gleich stark gestiegen (Abbildung 1, oben links). Der Gini-Koeffizient ist ein häufig verwendetes, aber sehr grobes Maß für die Einkommensverteilung.
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Hinter der ähnlichen Entwicklung der Gini-Koeffizienten verbergen sich jedoch sehr unterschiedliche Trends bei anderen, in mancher Hinsicht aussagekräftigeren Ungleichheitsmaßen. So ist der Anteil der Spitzeneinkommen (obere 1 Prozent oder 5 Prozent der Haushaltseinkommen) in den liberalen Marktwirtschaften viel stärker gestiegen als in den koordinierten Marktwirtschaften (Abb. 1, Slide 2). Hingegen ist die Lohnquote (Anteil der Löhne an den gesamtwirtschaftlichen Einkommen, also an der Summe aus Löhnen und Gewinnen) in den koordinierten Marktwirtschaften deutlich stärker zurückgegangen als in den liberalen Marktwirtschaften (Abb. 1, Slide 3).
Hinter der ähnlichen Entwicklung der Gini-Koeffizienten verbergen sich jedoch sehr unterschiedliche Trends bei anderen, in mancher Hinsicht aussagekräftigeren Ungleichheitsmaßen. So ist der Anteil der Spitzeneinkommen (obere 1 Prozent oder 5 Prozent der Haushaltseinkommen) in den liberalen Marktwirtschaften viel stärker gestiegen als in den koordinierten Marktwirtschaften (Abbildung 1, oben rechts). Hingegen ist die Lohnquote (Anteil der Löhne an den gesamtwirtschaftlichen Einkommen, also an der Summe aus Löhnen und Gewinnen) in den koordinierten Marktwirtschaften deutlich stärker zurückgegangen als in den liberalen Marktwirtschaften (Abbildung 1, unten links).
Was steckt hinter den unterschiedlichen Ungleichheitstrends?
Wie lassen sich diese unterschiedlichen Gesichter der Ungleichheit erklären?
In den liberalen Marktwirtschaften sind die Gehälter von Top-Manager*innen stärker gestiegen als in koordinierten Marktwirtschaften. Dies hatte zwei Effekte: Zum einen trugen die explodierenden Managementgehälter zum Anstieg der Einkommensungleichheit zwischen den privaten Haushalten am oberen Ende der Verteilung bei. Zum anderen stabilisierten die Managementgehälter paradoxerweise die Lohnquote, weil auch Spitzengehälter statistisch als Löhne erfasst werden.
In den koordinierten Marktwirtschaften sind die Gehälter der Spitzenmanager*innen weniger stark gestiegen. Allerdings entwickelten sich die Gewinne der Unternehmen im Verhältnis zu den Löhnen besser als in den liberalen Marktwirtschaften. Zu einem großen Teil wurden die steigenden Gewinne von den Unternehmen einbehalten. Sie kamen also gar nicht bei den Haushalten an und führten insofern auch nicht zu einer höheren Einkommensungleichheit zwischen den Haushalten, wie sie im Gini-Koeffizienten oder in den Spitzeneinkommensanteilen gemessen werden. Dennoch bedeuten höhere (einbehaltene) Unternehmensgewinne einen Anstieg der ökonomischen Ungleichheit, auch wenn dies in den üblicherweise verwendeten Ungleichheitsmaßnahmen nicht berücksichtigt wird. Denn die (einbehaltenen) Gewinne sind ganz überwiegend reichen Unternehmensbesitzer*innen zuzurechnen, welche vermittelt über ihre Unternehmensanteile ihre Ersparnisse und somit Vermögen steigern konnten (auch Betriebsvermögen werden in Statistiken zur Vermögensungleichheit systematisch untererfasst).
Ungleichheit und Wachstumsmodelle
In unserem Artikel untersuchen wir, wie die beschriebenen Muster der Einkommensverteilung mit den verschiedenen Wachstumsmodellen von liberalen und koordinierten Marktwirtschaften zusammenhängen.
In koordinierten Marktwirtschaften ist das Wirtschaftswachstum tendenziell „exportgetrieben“ in dem Sinn, dass diese Länder typischerweise mehr exportieren, als sie importieren. Die Löhne und generell die privaten Haushaltseinkommen haben sich in diesen Ländern eher schleppend entwickelt – mit dem Ergebnis eines schwachen privaten Konsums und entsprechend niedrigen Importen (Abbildung 1, unten rechts).
In unserem Artikel untersuchen wir, wie die beschriebenen Muster der Einkommensverteilung mit den verschiedenen Wachstumsmodellen von liberalen und koordinierten Marktwirtschaften zusammenhängen.
In koordinierten Marktwirtschaften ist das Wirtschaftswachstum tendenziell „exportgetrieben“ in dem Sinn, dass diese Länder typischerweise mehr exportieren, als sie importieren. Die Löhne und generell die privaten Haushaltseinkommen haben sich in diesen Ländern eher schleppend entwickelt mit dem Ergebnis eines schwachen privaten Konsums und entsprechend niedrigen Importen (Abb. 1, Slide 4).
In liberalen Marktwirtschaften hingegen haben sich vor der Globalen Finanzkrise 2007ff. tendenziell „schuldengetriebene“ Wachstumsmodelle entwickelt. Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass von der steigenden Ungleichheit und den steigenden Ausgaben der oberen Einkommensgruppen ein zunehmender Druck auf die unteren und mittleren Einkommensgruppen ausging, ihre Ausgaben für Wohnen, Bildung, Gesundheit, Verkehr usw. ebenfalls zu erhöhen, um ihren relativen Lebensstandard aufrecht zu erhalten. In liberalen Marktwirtschaften ist dieser Druck durch die Abwesenheit einer umfassenden öffentlichen Daseinsvorsorge besonders stark. Auf die Explosion der Spitzeneinkommen und den damit einhergehenden vermehrten Konsum der Spitzenverdiener*innen haben die nicht-reichen Einkommensschichten also mit verminderter Ersparnis und höherer Verschuldung reagiert. Das Ergebnis waren ein – im Vergleich zu den koordinierten Marktwirtschaften – hoher Konsum und hohe Importe bei niedrigen Exporten (Abbildung 1, unten rechts).
Beide Wachstumsmodelle, die ihre Ursache unter anderem in den beschriebenen Entwicklungen der Einkommensverteilung haben, sind letztlich nicht nachhaltig: das schuldengetriebene Modell nicht, weil es mit Überschuldungsproblemen bei den privaten Haushalten einhergeht; das exportgetriebene Modell auch nicht, weil mit den Exportüberschüssen eine zunehmende Verschuldung der Handelspartner*innen einhergeht.
In liberalen Marktwirtschaften hingegen haben sich vor der Globalen Finanzkrise 2007ff. tendenziell „schuldengetriebene“ Wachstumsmodelle entwickelt. Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass von der steigenden Ungleichheit und den steigenden Ausgaben der oberen Einkommensgruppen ein zunehmender Druck für die unteren und mittleren Einkommensgruppen ausging, ihre Ausgaben für Wohnen, Bildung, Gesundheit, Verkehr usw. ebenfalls zu erhöhen, um ihren relativen Lebensstandard aufrecht zu erhalten. In liberalen Marktwirtschaften ist dieser Druck durch die Abwesenheit einer umfassenden öffentlichen Daseinsvorsorge besonders stark. Auf die Explosion der Spitzeneinkommen und den damit einhergehenden vermehrten Konsum der Spitzenverdiener*innen haben die nicht-reichen Einkommensschichten also mit verminderter Ersparnis und höherer Verschuldung reagiert. Das Ergebnis waren ein – im Vergleich zu den koordinierten Marktwirtschaften – hoher Konsum und hohe Importe bei niedrigen Exporten (Abb. 1, Slide 4).
Beide Wachstumsmodelle, die ihre Ursache unter anderem in den beschriebenen Entwicklungen der Einkommensverteilung haben, sind letztlich nicht nachhaltig: das schuldengetriebene Modell, weil es mit Überschuldungsproblemen bei den privaten Haushalten einhergeht; das exportgetriebene, weil mit den Exportüberschüssen eine zunehmende Verschuldung der Handelspartner einhergeht.
Implikationen für die Ungleichheitsdebatte
Die Ungleichheitsdebatte in Deutschland beschränkt sich häufig einseitig auf die Frage, ob der Gini-Koeffizient der privaten Haushaltseinkommen in einem bestimmten Jahr oder einem bestimmten Zeitraum gestiegen ist oder nicht. Dabei ist nicht nur die Frage wichtig, wie die Einkommen verteilt sind, die bei den privaten Haushalten ankommen, sondern auch die Frage, wie groß der Anteil der Einkommen ist, der nicht bei den Haushalten ankommt, weil er bei den Unternehmen (oder beim Staat) verbleibt. Wenn etwa der deutsche Mittelstand hohe Unternehmensersparnisse anhäuft, werden diese Einkommen zwar nicht als Spitzenhaushaltseinkommen erfasst, sie implizieren aber natürlich dennoch eine gestiegene Ungleichheit, weil die Unternehmensersparnisse ungleicher verteilt sind als die Arbeitseinkommen.
Wie Abbildung 2 zeigt, ist der Anteil der Haushaltseinkommen an den gesamtwirtschaftlichen Einkommen in Deutschland seit mehr als 20 Jahren rückläufig. Von den gestiegenen Unternehmenseinkommen profitieren Normalbürger*innen jedoch kaum. Und der Staat hat seine steigenden Einkommen unter dem Dogma der „Schwarzen Null“ für eine langanhaltende Konsolidierungsphase genutzt und nicht etwa für einen stärkeren Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge, welche private Einkommen und Kaufkraft aus Sicht der Haushalte entbehrlich machen könnten.
Diese langfristigen und mächtigen Trends verdienen stärkere Berücksichtigung, wenn politisch darüber diskutiert wird, warum viele Menschen in Deutschland sich abgehängt und als Verlierer*innen des deutschen Wachstumsmodells fühlen.
Dieser Beitrag wurde nachträglich in leicht überarbeiteter Fassung auf makronom.de veröffentlicht.
Kurz zusammengefasst
Die ökonomische Ungleichheit steigt seit den 1980er Jahren quasi überall, nicht nur in liberalen Marktwirtschaften wie den USA, sondern auch in koordinierten Marktwirtschaften wie Deutschland. Aber das Gesicht der Ungleichheit und das makroökonomische Wachstumsmodell unterscheiden sich systematisch zwischen den Kapitalismustypen. In den liberalen Marktwirtschaften ist vor allem die Ungleichheit in der personellen Einkommensverteilung angestiegen und ein „schuldengetriebenes“ Wachstumsmodell entstanden. In den koordinierten Marktwirtschaften ist die Lohnquote rückläufig gewesen und ein „exportgetriebenes“ Wachstumsmodell entstanden. In Deutschland wurden hohe Ersparnisse im Unternehmenssektor angehäuft, die bei einer ausschließlichen Betrachtung des Gini-Koeffizienten nicht berücksichtigt werden. Diese langfristigen und mächtigen Trends verdienen stärkere Berücksichtigung in der Ungleichheitsdebatte.