Kaum ein Text aus der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik kommt gegenwärtig ohne Vorschläge zur besseren Teilhabeförderung aus. Doch was verstehen die davon betroffenen Personen eigentlich darunter?
ie Förderung sozialer Teilhabe hat sich als eigenständiges Ziel von Arbeitsmarktpolitik etabliert. Jüngstes Beispiel ist die Bürgergeldreform. Doch was ist eigentlich unter sozialer Teilhabe zu verstehen? Dafür habe ich Interviews mit langzeiterwerbslosen Personen geführt und herausgefunden, dass die wahrgenommene soziale Position entscheidend für das individuelle Erleben von Teilhabe ist. Öffentlich geförderte Beschäftigungsverhältnisse können – unter bestimmten Voraussetzungen – einen wichtigen Beitrag leisten, den subjektiv wahrgenommenen sozialen Status bei Arbeitslosigkeit zu erhöhen.
Der Autor
Philipp Langer ist Stipendiat im Promotionskolleg „Politische Ökonomie der Ungleichheit“. Seine Schwerpunkte: Arbeitsmarkt und Sozialpolitik.
Kaum ein Text aus der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik kommt gegenwärtig ohne Vorschläge zur besseren Teilhabeförderung aus. Mit der Bürgergeldreform hat sich auch die aktuelle Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP zum Ziel gesetzt, arbeitssuchenden Personen „gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen“. Teil der Reform ist etwa, dass die Eingliederungsvereinbarung „durch einen Plan zur Verbesserung der Teilhabe“ ersetzt wird. So kommt es mit den jüngsten Reformen zumindest in der Zielbeschreibung zu einer Stärkung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, die die individuelle Selbstbestimmung von erwerbslosen Personen fördern möchte. Soziale Teilhabe ist der zentrale Begriff in dieser arbeitsmarktpolitischen Zielverschiebung.
Soziale Teilhabe etabliert sich in wissenschaftlichen und politischen Diskursen zunehmend als Gegenbegriff zu sozialer Exklusion und als positive Gerechtigkeitsnorm. Mit dem sozialpolitischen Anliegen der Teilhabeförderung geht es primär nicht um die Erhöhung materieller Ressourcen, sondern um soziale Aspekte. Diese umfassen unter anderem das Erfahren von Anerkennung, die Verbesserung des sozialen Status oder die Stärkung sozialer Kontakte.
Serie Ungleichheit und Macht
Die wachsende gesellschaftliche Ungleichheit ist eines der bedeutendsten Probleme unserer Zeit. Zugleich steigt das wissenschaftliche Interesse und liefert neue Erkenntnisse mit Blick auf die drängendsten Fragen und Antworten zu verschiedenen Dimensionen der Ungleichheit und ihren zugrundeliegenden Machstrukturen.
Für die Debattenreihe „Ungleichheit und Macht“ haben Doktorand:innen aus dem Promotionskolleg „Politische Ökonomie der Ungleichheit“ am Institut für Sozioökonomie der Universität Duisburg-Essen diese neuen Erkenntnisse aufgeschrieben. In den Beiträgen stellen die Promovierenden, die von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert werden, Teilergebnisse ihrer Forschung vor und diskutieren verbundene gesellschaftliche Herausforderungen sowie politische Handlungsoptionen. Mit dem Fokus auf Ungleichheitsdimensionen und zugrunde liegenden Machtverhältnissen reicht der thematische Bogen von Armut und Besteuerung bis zu Arbeitsmarkt‑, Gleichstellungs- oder Klimapolitik. Durch die thematischen Breite und Vielfalt der eingesetzten Methoden stoßen die Autor:innen eine weiterführende gesellschaftliche Debatte darüber an, wie der steigenden Ungleichheit begegnet werden kann.
Die Reihe erscheint in regelmäßigen Abständen zwischen April und Juni 2023 im Makronom. Hier im ifsoblog dokumentieren wir die Serie anschließend ebenfalls.
Der Begriff der Teilhabe wird allerdings auch kritisch betrachtet. Beispielweise wird das Konzept als ein zu vages Ziel von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik angesehen, welches viel politischen Interpretationsspielraum lässt. Kritik wird auch daran geübt, dass das Anliegen, soziale Teilhabe für bestimmte Personengruppen herzustellen, deutlich unverfänglicher ist als etwa das Ziel, Armutsrisiken zu reduzieren. Mit dem Anliegen, soziale Teilhabe zu fördern oder soziale Exklusion zu reduzieren, gehe es vor allem um den Übertritt einer bestimmten Schwelle – von Draußen nach Drinnen –, der allen voran durch die Aufnahme einer Erwerbsarbeit zu erreichen ist, während strukturelle Ungleichheitsfragen ausgeklammert würden.
Zum Verständnis sozialer Teilhabe aus Sicht von langzeiterwerbslosen Personen
Damit die Stimmen von „Betroffenen“ zu Wort kommen, habe ich das Ziel der sozialen Teilhabe aus der Perspektive von langzeiterwerbslosen Personen in den Blick genommen. Personen, die längere Zeit erwerbslos waren, sind besonders häufig von gesellschaftlichem Ausschluss betroffen. Gemeinsam mit weiteren Wissenschaftler:innen habe ich langzeiterwerbslose Personen, die an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme zur Förderung sozialer Teilhabe teilgenommen haben, gefragt, was sie unter „sozialer Teilhabe“ verstehen. Bei der Arbeitsmarktmaßnahme handelt es sich um öffentlich geförderte Beschäftigung, d.h. es werden Arbeitsplätze für bestimmte Personengruppen subventioniert, die es ohne die Förderung nicht geben würde.
Im Unterschied zu anderen Arbeitsmarktmaßnahmen, wie z.B. zu den Arbeitsgelegenheiten (sog. 1‑Euro-Jobs), handelte es sich bei der hier betrachteten Beschäftigung um ein richtiges sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis mit einem Arbeitsvertrag und einer Vergütung auf Höhe des Mindestlohns (oder auch darüber hinaus). Mit 25 Nutzer:innen dieser arbeitsmarktpolitischen Intervention wurden an bis zu drei Zeitpunkten Interviews geführt und ihre Erfahrungen festgehalten. Das untersuchte Programm war der Vorläufer aktueller Maßnahmen geförderter Beschäftigung (sog. „sozialer Arbeitsmarkt“), im Rahmen dessen es zu einer deutlichen qualitativen Aufwertung dieses Arbeitsmarktinstrumentes gekommen ist. Ähnliche Instrumente, wie z.B. eine Arbeitsplatzgarantie, werden gegenwärtig auch in anderen Ländern erprobt.
Aus den Interviews mit den zuvor langzeitarbeitslosen Personen lassen sich zusammenführend zwei idealtypische Deutungen des Ziels der sozialen Teilhabe im Kontext des Arbeitsmarktprogramms unterscheiden: erstens ein erwerbsarbeitszentriertes Verständnis, sowie zweitens ein sozialintegratives Verständnis. Das verbindende Element beider Deutungen liegt in der Bedeutung der subjektiv wahrgenommenen eigenen gesellschaftlichen Position für die persönlich empfundene soziale Teilhabe.
Erwerbsarbeitszentrierte Deutung: „Sozial ist für mich ja Arbeiten“
Für die meisten Teilnehmenden handelt es sich nicht um die erste geförderte Beschäftigung. Ein Großteil hat schon Erfahrungen in unterschiedlichen Programmen und Maßnahmen der Arbeitsförderung gesammelt. Vor diesem Hintergrund nehmen die Interviewten soziale Teilhabe nicht als neue Zielsetzung wahr, sondern verstehen es einfach als einen weiteren Namen für ein beschäftigungspolitisches Programm. Trotzdem bewerten sie die Maßnahme – insbesondere im Vergleich zu anderen Arbeitsmarktmaßnahmen – als positiv. Viele der Interviewten schätzten es wert, einen eigenen Arbeitsvertrag in den Händen zu halten, nach Mindestlohn bezahlt zu werden und vergleichsweise lang angestellt zu sein. Das folgende Zitat macht dies deutlich:
„[Soziale Teilhabe] sagt mir gar nichts. Ich bin halt froh, ich kann hier arbeiten anderthalb Jahre, da bin ich mal versorgt.“ (Interviewpartner:in)
Für die Nutzer:innen ist es entscheidend, dass ihre Tätigkeit als „richtige“ Erwerbsarbeit und nicht als „Arbeit zweiter Klasse“ wahrgenommen wird. Vor diesem Hintergrund messen sie ihre soziale Teilhabe daran, dass sie durch die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wieder Teil der „arbeitenden Gesellschaft“ sind. Sie sind unabhängiger „vom Staat“, dem Jobcenter und Sozialleistungen und leisten durch ihre Erwerbstätigkeit einen wertvollen Beitrag zum Beispiel zum sozialen Sicherungssystem:
„[…] also, dass man da was zu beiträgt. Und nicht einfach nur etwas raus nimmt aus dem Pott, sondern man gibt auch etwas zurück. Und das, ja, würde ich jetzt so damit verbinden.“ (Interviewpartner:in)
Sozialintegrative Deutung: „Wenn du keine soziale Teilhabe mehr hast, wirst du daheimsitzen“
Das zweite idealtypische Verständnis wird als sozialintegrativ bezeichnet. Diese Deutung erfolgt vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Erwerbslosigkeit, die als Prozess negativer Verstärkung beschrieben werden:
„Man zieht sich immer weiter zurück, man ist immer mehr deprimierend, man sitzt dann in der Ecke und man meint dann, es geht irgendwann nicht mehr vor und nicht mehr zurück.“ (Interviewpartner:in)
Für diesen Personenkreis bezieht sich soziale Teilhabe insbesondere auf die soziale Integration in den jeweiligen Arbeitszusammenhängen:
„Ja, Soziale Teilhabe bedeutet für mich erst mal, dass ich wieder täglich unter Menschen komme. Es ist ja so, wenn man arbeitslos ist, spricht man manchmal tagelang, wenn nicht mehr, nicht mit irgendeinem Menschen.“ (Interviewpartner:in)
Die gesellschaftlich anerkannte Position des/der Erwerbstätige:n eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit zur Teilnahme an unterschiedlichen sozialen Interaktionen und Aktivitäten, denen sie zuvor aufgrund von Schamgefühl und wahrgenommener Stigmatisierung ausgewichen sind (z.B. Mitwirkung in Vereinen). Während sich bei einem Teil der Interviewten die Deutungen sozialer Teilhabe auch auf die Notwendigkeit materieller Ressourcen zur sozialen Integration beziehen, klammern andere den materiellen Aspekt der Beschäftigung explizit aus ihrem Verständnis von Teilhabe aus:
„Das Geld, muss ich Ihnen jetzt ganz ehrlich sagen: Ich glaube, das spielt für mich nicht mal eine Rolle im Moment. Also für mich ist das eigentlich viel, viel mehr wert, einfach zu Hause rauszukommen und unter Leute zu kommen, weil ich auch stimmungsmäßig ganz anders drauf bin“ (Interviewpartner:in)
„The Shame of Poverty“ als verbindendes Element beider Deutungen
Welches Verständnis von sozialer Teilhabe haben langzeiterwerbslose Personen, denen ein erhöhtes Risiko für soziale Exklusion zugesprochen werden kann? Die Deutungen sozialer Teilhabe im Kontext einer Erwerbstätigkeit in einem öffentlich geförderten Arbeitsverhältnis beziehen sich auf Aspekte der Erwerbsarbeit oder der sozialen Integration. Bei beiden Varianten ist die Erfüllung von (vermeintlichen) Erwartungen der Gesellschaft zentral. Teilhabe wird zum einen als Teilhabe an der Erwerbsarbeitsgesellschaft verstanden, die es ermöglicht, eigene Beiträge gegenüber der Gesellschaft allgemein oder den sozialen Sicherungssystemen im Speziellen zu leisten.
Teilhabe wird zum anderen als Einnahme einer gesellschaftlich anerkannten Rolle definiert, die es überhaupt erst ermöglicht, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Diese grundsätzliche Bedeutung der subjektiv wahrgenommenen gesellschaftlichen Position bestätigt u.a. Walker (2014), der aufbauend auf Amartya Sen in einer international vergleichenden Studie herausarbeitet, dass Scham den Kern von Armut darstellt:
„[…] people in poverty are repeatedly exposed to shaming by the attitudes and behaviour of the people they meet, by the tenor of public debate that either dismisses them or labels them as lazy and in their dealings with public agencies.”
Die Interviews zeigen, dass das Instrument der öffentlich geförderten Beschäftigung in der Lage ist, den zuvor langzeiterwerbslosen Personen Zugang zu einer gesellschaftlich anerkannten sozialen Position zu eröffnen. Hierfür sind insbesondere die Rahmenbedingungen geförderter Beschäftigung entscheidend, etwa, dass es sich um eine richtige sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit einem Arbeitsvertrag, einer entsprechenden Vergütung sowie einer sinnstiftenden Tätigkeit handelt.
Mit der Bürgergeldreform wurde der sogenannte soziale Arbeitsmarkt, wie das Instrument der öffentlich geförderten Beschäftigung genannt wird, zeitlich entfristet. Damit steht den Jobcentern ein Instrument zur Verfügung, mit dem die soziale Teilhabe von Personen, die zwar als erwerbsfähig gelten aber kaum Chancen auf eine Arbeitsmarktintegration haben, erhöht werden kann.
In den Blick zu nehmen ist allerdings, was mit den Menschen im Anschluss an die Tätigkeit in einem öffentlich geförderten Beschäftigungsverhältnis passiert. Es ist anzunehmen, dass die Sicherung der erreichten Teilhabe erheblich von der weiteren individuellen Arbeitsmarktbeteiligung abhängt, allerdings nur einem Teil ein dauerhafter Übergang in eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gelingt. Im Hinblick auf das Ziel der sozialen Teilhabe im Feld der Arbeitsmarktpolitik ist dann zu fragen, ob gesellschaftliche Teilhabe die Aufnahme einer Erwerbsarbeit voraussetzt oder aber wie der Teilhabeauftrag der Grundsicherung jenseits der unmittelbaren Arbeitsmarktintegration nachhaltig erfüllt werden kann.
Die Politische Ökonomie der Ungleichheit
Das Promotionskolleg „Die Politische Ökonomie der Ungleichheit“ untersucht Ausmaß, Ursachen und Folgen steigender sozioökonomischer Ungleichheit. Materielle Unterschiede stehen dabei im Mittelpunkt, werden aber stets in Zusammenhang zu politischen, sozialen und ökologischen Aspekten gesetzt. Die Forschungspraxis ist von einem interdisziplinären und anwendungsorientierten sozioökonomischen Ansatz geprägt. Zur Übersicht aller Blogbeiträge der Mitglieder aus dem Promotionskolleg
Dieser Beitrag wurde zunächst auf makronom.de veröffentlicht.
Kurz zusammengefasst
Kaum ein Text aus der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik kommt gegenwärtig ohne Vorschläge zur besseren Teilhabeförderung aus. Doch was verstehen die davon betroffenen Personen eigentlich darunter? Der Text bietet Interviews, geführt mit langzeiterwerbslosen Personen, um genau diese Frage zu ergründen. Die Ergebnisse legen offen, die wahrgenommene soziale Position ist entscheidend für das individuelle Erleben von Teilhabe. Soziale Teilhabe etabliert sich in wissenschaftlichen und politischen Diskursen zunehmend als Gegenbegriff zu sozialer Exklusion und als positive Gerechtigkeitsnorm. Dabei steht nicht die Erhöhung materieller Ressourcen im Vordergrund, sondern betont werden soziale Aspekte wie Anerkennung, sozialer Status oder Stärkung sozialer Kontakte. Soziale Teilhabe als erklärtes Ziel muss sich allerdings auch Kritik stellen. Das Konzept sei zu unspezifisch oder verfehle strukturelle Ungleichheitsfragen zu beantworten. Im Kontext der geführten Interviews lassen sich zwei idealtypische Deutungen des Ziels der sozialen Teilhabe unterscheiden: eine erwerbsarbeitszentrierte und eine sozialintegrative Sichtweise. Das verbindende Element beider Deutungen liegt in der Bedeutung der subjektiv wahrgenommenen eigenen gesellschaftlichen Position für die persönlich empfundene soziale Teilhabe. Die Interviews zeigen, dass das Instrument der öffentlich geförderten Beschäftigung in der Lage ist, den zuvor langzeiterwerbslosen Personen Zugang zu einer gesellschaftlich anerkannten sozialen Position zu eröffnen.