Das Brut­to­in­lands­pro­dukt (BIP) ist nach wie vor das am häu­figs­ten ver­wen­dete Maß für den Wohl­stand eines Lan­des. Aller­dings ver­birgt sich hin­ter die­sem weit­ge­hend akzep­tier­ten Indi­ka­tor eine weni­ger bekannte Tat­sa­che: Es spie­gelt vor­ran­gig die wirt­schaft­li­che Situa­tion der Rei­chen wider.

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eld ist nicht alles. Das hat auch die Bun­des­re­gie­rung erkannt und sucht aktu­ell nach neuen Wegen, um Wohl­stand jen­seits des rei­nen Wirt­schafts­wachs­tums zu mes­sen. Dabei sol­len soziale und öko­lo­gi­sche Fak­to­ren stär­ker in den Vor­der­grund rücken. Dies ist zwei­fel­los ein Schritt in die rich­tige Rich­tung, um eine umfas­sen­dere Dar­stel­lung des Lebens­stan­dards und der Lebens­qua­li­tät zu ermöglichen.

Trotz­dem spie­len wirt­schaft­li­che Indi­ka­to­ren wie das Brut­to­in­lands­pro­dukt (BIP) pro Kopf[1] wei­ter­hin eine zen­trale Rolle bei der Beur­tei­lung des all­ge­mei­nen Wohl­stands. Und das aus gutem Grund: Die mate­ri­el­len Grund­la­gen, die durch diese Kenn­zah­len abge­bil­det wer­den, sind nach wie vor ein ganz zen­tra­ler Aspekt des Lebensstandards.

Um die­sen Aspekt des Lebens­stan­dards zu erfas­sen, greift die Bun­des­re­gie­rung im Jah­res­wirt­schafts­be­richt aktu­ell auf Kenn­zah­len wie das Natio­nal­ein­kom­men pro Kopf, das ver­füg­bare Pro-Kopf-Ein­kom­men und die Ent­wick­lung der Real­löhne zurück. Doch so infor­ma­tiv diese Durch­schnitts­zah­len auch sein mögen – sie haben eine zen­trale Schwä­che: Sie erfas­sen die Ein­kom­mens­si­tua­tion in einer Weise, die den Ein­kom­men der wohl­ha­ben­de­ren Bevöl­ke­rungs­grup­pen eine über­pro­por­tio­nale Bedeu­tung zuweist.

Mathe­ma­tisch gese­hen ist etwa das Wachs­tum des BIP pro Kopf – die klas­si­sche Kenn­zahl jeder Wirt­schafts­be­richt­erstat­tung – ein gewich­te­ter Durch­schnitt, in dem die Ein­kom­mens­stei­ge­run­gen der Wohl­ha­ben­den stär­ker berück­sich­tigt wer­den. Diese Kenn­zahl gibt Aus­kunft über das Wachs­tum des durch­schnitt­li­chen Ein­kom­mens und nicht über das Wachs­tum des Ein­kom­mens einer durch­schnitt­li­chen Person.

Der Autor

Jonas Schulte ist Stu­dent im MA Sozio­öko­no­mie und wis­sen­schaft­li­che Hilfs­kraft am Insti­tut für Sozio­öko­no­mie der Uni­ver­si­tät Duisburg-Essen.

Diese Form der Gewich­tung ist aller­dings kei­nes­wegs unver­meid­lich, son­dern ent­springt den nor­ma­ti­ven Annah­men, die der Inter­pre­ta­tion des BIP als Mess­größe typi­scher­weise zugrunde gelegt wer­den. Ein auf alter­na­ti­ven Annah­men basie­ren­der Indi­ka­tor für die Ent­wick­lung der durch­schnitt­li­chen Ein­kom­men könnte bei­spiels­weise jede Per­son gleich­be­rech­tigt ein­be­zie­hen oder sogar Men­schen mit nied­ri­ge­rem Ein­kom­men – die stär­ker von Ein­kom­mens­zu­wäch­sen abhän­gig sind, um einen gewis­sen Lebens­stan­dard zu sichern – stär­ker berücksichtigen.

Die Bedeutung der Gewichtung bei der Durchschnittsberechnung

Ein ein­fa­ches Zah­len­bei­spiel soll drei Vari­an­ten einer sol­chen Maß­zahl ver­an­schau­li­chen. Die nach­fol­gende Tabelle zeigt die hypo­the­ti­sche Ein­kom­mens­ent­wick­lung aller Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­ner. Aus Grün­den der Ein­fach­heit beschrän­ken wir uns hier auf vier Per­so­nen, doch die nach­fol­gen­den Berech­nungs­me­tho­den wären iden­tisch, selbst wenn sie auf 84 Mil­lio­nen Men­schen ange­wen­det würden.

Name Ein­kom­men im letz­ten Jahr Ein­kom­men in die­sem Jahr Wachs­tums­rate
Anna 10000 16000 60%
Bernd 2000 1600 -20%
Carla 2000 1600 -20%
Daniel 2000 1600 -20%

Ange­nom­men, Ihnen wird die Auf­gabe über­tra­gen, einen Indi­ka­tor zu berech­nen, der die durch­schnitt­li­che Ent­wick­lung der Ein­kom­men in einer aus­sa­ge­kräf­ti­gen und fai­ren Weise dar­stellt. Wie wür­den Sie die ver­schie­de­nen Ein­kom­mens­ver­än­de­run­gen gewichten?

Demokratischer Durchschnitt: Eine Person, eine Stimme

Auf den ers­ten Blick könnte die Frage tri­vial erschei­nen. Ein intui­ti­ver Ansatz wäre, den Durch­schnitt der indi­vi­du­el­len Wachs­tums­ra­ten zu berechnen:

\frac{60\% – 20 \%-20\%-20\%}{4}=0\%

Die­ser Wert von 0 Pro­zent zeigt, dass die Ein­kom­men im Durch­schnitt weder gestie­gen noch gesun­ken sind. Die hohe Wachs­tums­rate von Anna gleicht die nega­ti­ven Wachs­tums­ra­ten von Bernd, Carla und Daniel aus.

In die­sem Ver­fah­ren flie­ßen die Wachs­tums­ra­ten aller Per­so­nen gleich­be­rech­tigt in die Berech­nung des Durch­schnitts ein. Dies spie­gelt das demo­kra­ti­sche Prin­zip „Eine Per­son, eine Stimme“ wider, wes­halb man die­ses Ver­fah­ren als Demo­kra­ti­schen Durch­schnitt[2] bezeich­nen kann. Dabei ist zu beach­ten, dass das Berech­nungs­ver­fah­ren auf der nor­ma­ti­ven Ent­schei­dung basiert, alle indi­vi­du­el­len Wachs­tums­ra­ten gleich­wer­tig in die Durch­schnitts­be­rech­nung ein­zu­be­zie­hen – anstelle der Wachs­tums­rate des durch­schnitt­li­chen Ein­kom­mens zählt hier die durch­schnitt­li­che Wachs­tums­rate der Einkommen.

Egalitärer Durchschnitt: Geringe Einkommen stärker berücksichtigen

In die­sem Zusam­men­hang lässt sich argu­men­tie­ren, dass der Demo­kra­ti­sche Durch­schnitt die rea­len Lebens­stan­dards nur unzu­rei­chend abbil­det, da die hohe Ungleich­heit in den Daten nicht berück­sich­tigt wird. Eine Redu­zie­rung des Ein­kom­mens hat umso gra­vie­ren­dere Aus­wir­kun­gen auf den Lebens­stan­dard, je gerin­ger das ursprüng­li­che Ein­kom­men ist.

Um die­sen Aspekt zu berück­sich­ti­gen, kann die Wachs­tums­rate der Per­so­nen mit dem nied­rigs­ten Ein­kom­men stär­ker in die Durch­schnitts­be­rech­nung ein­be­zo­gen wer­den. Wir bezeich­nen die­ses Vor­ge­hen als Ega­li­tä­ren Durch­schnitt. Gewich­tet man die Wachs­tums­ra­ten indi­rekt pro­por­tio­nal zum Ein­kom­men[3], ergibt sich fol­gen­der Wert:

\frac{1}{16}60\%+\frac{5}{16}(-20\%)+\frac{5}{16}(-20\%)+\frac{5}{16}(-20\%) = ‑15\%

Gemäß dem Ega­li­tä­ren Durch­schnitt sind die Ein­kom­men durch­schnitt­lich um 15 Pro­zent gesun­ken. Die­ser Indi­ka­tor reprä­sen­tiert die tat­säch­li­che Ein­kom­mens­ent­wick­lung von Per­so­nen mit nied­ri­ge­rem Ein­kom­men – in die­sem Fall Bernd, Carla und Daniel – deut­lich prä­zi­ser als der Demo­kra­ti­sche Durch­schnitt. Aller­dings spie­gelt er die posi­tive Ein­kom­mens­ent­wick­lung von Per­so­nen mit höhe­rem Ein­kom­men, wie Anna, kaum wider.

Plutokratischer Durchschnitt: Ein Euro, eine Stimme

Statt die Ärms­ten wie beim Ega­li­tä­ren Durch­schnitt stär­ker in der Durch­schnitts­be­rech­nung zu berück­sich­ti­gen, kann man argu­men­tie­ren, dass Per­so­nen mit hohem Ein­kom­men eine beson­ders tra­gende Rolle in der Wirt­schaft spie­len und daher in der Berech­nung stär­ker reflek­tiert wer­den soll­ten. Dies führt uns zu einer drit­ten Methode, die in Anleh­nung an den Ungleich­heits­for­scher Branco Mila­no­vić[4] als Plu­to­kra­ti­scher Durch­schnitt bezeich­net wer­den kann.

Bei die­ser Methode wer­den die Wachs­tums­ra­ten ent­spre­chend der Höhe der Ein­kom­men gewich­tet[5]. Für unser Bei­spiel ergibt sich fol­gen­der Wert:

\frac{5}{8}60\%+\frac{1}{8}(-20\%)+\frac{1}{8}(-20\%)+\frac{1}{8}(-20\%) = 30\%

Der Plu­to­kra­ti­sche Durch­schnitt zeigt einen Anstieg der durch­schnitt­li­chen Ein­kom­men um 30 Pro­zent. Diese Maß­zahl spie­gelt die Rea­li­tät von Bernd, Carla und Daniel, den Per­so­nen mit nied­ri­ge­rem Ein­kom­men, kaum wider und wird vor allem durch die Ein­kom­mens­ent­wick­lung von Anna domi­niert, also der Per­son mit dem höchs­ten Einkommen.

Wessen Lebensrealität wird abgebildet?

Jedes die­ser drei Ver­fah­ren stellt auf seine Art einen plau­si­blen Weg zur Dar­stel­lung der durch­schnitt­li­chen Ein­kom­mens­ent­wick­lung dar. Doch wel­ches Ver­fah­ren die tref­fendste Aus­sa­ge­kraft hat, hängt schluss­end­lich von indi­vi­du­el­len nor­ma­ti­ven Prä­fe­ren­zen ab:

Der Demo­kra­ti­sche Durch­schnitt ver­leiht jedem Indi­vi­duum die glei­che Bedeu­tung, wäh­rend der Ega­li­täre Durch­schnitt eine stär­kere Berück­sich­ti­gung der ärme­ren Bevöl­ke­rung vor­sieht und der Plu­to­kra­ti­sche Durch­schnitt die Wachs­tums­ra­ten der Rei­chen stär­ker gewichtet.

Wel­ches Ver­fah­ren am bes­ten als Maß­stab für die durch­schnitt­li­che Ent­wick­lung der Ein­kom­men geeig­net ist, führt letzt­end­lich zur zen­tra­len Frage: Wes­sen Lebens­rea­li­tät soll abge­bil­det werden?

Die­ser Blog­bei­trag ent­stand als Stu­di­en­leis­tung im Rah­men einer Lehr­ver­an­stal­tung im MA Sozio­öko­no­mie. Der MA Sozio­öko­no­mie ist der Mas­ter­stu­di­en­gang des Insti­tuts für Sozio­öko­no­mie an der Uni­ver­si­tät Duis­burg-Essen. Öko­no­mi­sche Zusam­men­hänge wer­den aus einer plu­ra­len, inter­dis­zi­pli­nä­ren und anwen­dungs­ori­en­tier­ten Per­spek­tive behandelt.

Mehr erfah­ren

Das Bruttoinlandsprodukt entspricht dem plutokratischen Durchschnitt

Als Gesell­schaft haben wir diese Frage – oft ohne uns des­sen bewusst zu sein – durch die Wahl des Brut­to­in­lands­pro­dukts (BIP) pro Kopf als zen­tra­len Wohl­stands­in­di­ka­tor beant­wor­tet. Das BIP pro Kopf spie­gelt vor­ran­gig die Lebens­rea­li­tät der Rei­chen wider, da es fak­tisch dem plu­to­kra­ti­schen Ansatz entspricht.

Auf den ers­ten Blick mag dies nicht offen­sicht­lich erschei­nen, da das BIP pro Kopf in der Pra­xis nicht direkt aus indi­vi­du­el­len Wachs­tums­ra­ten abge­lei­tet wird, son­dern sich aus der Summe aller Ein­kom­men (BIP) geteilt durch die Anzahl der Per­so­nen ergibt.[6] Das BIP pro Kopf beträgt in unse­rem Zah­len­bei­spiel für das vor­an­ge­gan­gen Jahr 4.000 Euro ((10000+2000+2000+2000)÷4). Für das aktu­elle Jahr beträgt das Pro-Kopf-Ein­kom­men 5.200 Euro. Aus die­sen Wer­ten kann man die Wachs­tums­rate berechnen:

\frac{5200–4000}{4000}= 30\%

Das Wachs­tum des BIP pro Ein­woh­ner um 30% ent­spricht genau dem Ergeb­nis des Plu­to­kra­ti­schen Durch­schnitts. Und dies ist kein Zufall. Das Wachs­tum des BIP pro Kopf ist ledig­lich ein ande­rer Rechen­weg für den Plu­to­kra­ti­schen Durch­schnitt, ist aber mathe­ma­tisch identisch.

Der Zusam­men­hang wird deut­li­cher, wenn man berück­sich­tigt, dass das BIP nicht davon abhängt, wer die Ein­kom­men erhält. Wenn das Ein­kom­men einer rei­chen Per­son um 10% steigt, hat dies einen deut­lich stär­ke­ren Ein­fluss auf das BIP als der glei­che pro­zen­tuale Anstieg des Ein­kom­mens einer ärme­ren Per­son. Das BIP basiert auf dem plu­to­kra­ti­schen Prin­zip „Ein Euro, eine Stimme“ und nicht auf dem demo­kra­ti­schen Ansatz „Eine Per­son, eine Stimme“.

Eine sol­che Gewich­tung hat Aus­wir­kun­gen für die Inter­pre­ta­tion des BIP als Indi­ka­tor für Wohl­stand – der daher nicht not­wen­di­ger­weise reprä­sen­ta­tiv für die durch­schnitt­li­che Situa­tion der Bevöl­ke­rung ist. Der Indi­ka­tor neigt dazu, die finan­zi­el­len Ver­hält­nisse der Rei­chen stär­ker zu reflek­tie­ren, wäh­rend die Lebens­um­stände der weni­ger Begüns­tig­ten nur mar­gi­nal ein­flie­ßen. Selbst hohe Ein­kom­mens­ver­luste bei Per­so­nen mit gerin­gen Ein­kom­men haben kaum einen Ein­fluss auf das BIP.

In der Pra­xis bedeu­tet dies auch, dass bei stei­gen­der Ungleich­heit – defi­niert als eine Situa­tion, in der die obe­ren Ein­kom­mens durch­schnitt­lich schnel­ler wach­sen – die gemes­se­nen BIP-Wachs­tums­ra­ten im Plu­to­kra­ti­schen Durch­schnitt höher aus­fal­len, wäh­rend, umge­kehrt, bei Ver­wen­dung eines Demo­kra­ti­schen oder Ega­li­tä­ren Durch­schnitts höhere Wachs­tums­ra­ten dann erreicht wer­den, wenn die Ungleich­heit zurückgeht.

Alternative Indikatoren

Diese Pro­ble­ma­tik beschränkt sich nicht nur auf das BIP pro Kopf. Auch andere Pro-Kopf-Durch­schnitts­werte, wie die Real­löhne pro Kopf oder die ver­füg­ba­ren Ein­kom­men pro Kopf, ten­die­ren dazu, vor allem die Ein­kom­mens­ent­wick­lung der obe­ren Ein­kom­mens­schich­ten widerzuspiegeln.

Ungleich­heits­for­scher schla­gen daher vor, neben dem Brut­to­in­lands­pro­dukt auch den Demo­kra­ti­schen Durch­schnitt als poli­ti­sche Mess­größe zu eta­blie­ren. In der Wis­sen­schaft wird die­ses Kon­zept unter ver­schie­de­nen Begriff­lich­kei­ten erfasst. Branko Mila­no­vić, Emma­nuel Saez und Gabriel Zuc­man ver­wen­den bei­spiels­weise den Begriff „people’s growth“, wäh­rend Alex­an­der Ada­mou, Yona­tan Ber­man und Ole Peters vom „Demo­cra­tic Dome­stic Pro­duct“ (Demo­kra­ti­sches Inlands­pro­dukt) sprechen.

Unab­hän­gig von der genauen Bezeich­nung bie­tet die kom­bi­nierte Nut­zung aller drei Durch­schnitts­werte eine Viel­zahl an Vor­tei­len. Sie lie­fern wich­tige und doch unter­schied­li­che Infor­ma­tio­nen über den Zustand der Wirt­schaft, da sie ver­schie­dene Berei­che der Ein­kom­mens­ver­tei­lung in den Mit­tel­punkt stellen.

Aktu­ell beschränkt sich die Bun­des­re­gie­rung im Jah­res­wirt­schafts­be­richt auf die Ver­öf­fent­li­chung des Plu­to­kra­ti­schen Durch­schnitts (und zwar nicht nur beim BIP, son­dern auch bei den ver­füg­ba­ren Ein­kom­men und den Real­löh­nen). Weder der Demo­kra­ti­sche noch der Ega­li­täre Durch­schnitt fin­den Berück­sich­ti­gung, da dem Sta­tis­ti­schen Bun­des­amt detail­lierte Daten zur Ein­kom­mens­ver­tei­lung – anders als bei­spiels­weise in Schwe­den oder Nor­we­gen – feh­len. Aller­dings kön­nen diese Kenn­zah­len rela­tiv ein­fach geschätzt wer­den, in dem man bereits vor­han­dene, umfang­rei­che Daten zur Ein­kom­mens­ver­tei­lung nutzt, wie sie etwa in der World Ine­qua­lity Data­base (WID) zu fin­den sind.

Im Mittel wachsen die Einkommen deutlich langsamer als angenommen

Die Ergeb­nisse einer sol­chen Schät­zung sind in den fol­gen­den Gra­fi­ken dar­ge­stellt. Abbil­dung 1 illus­triert die durch­schnitt­li­chen jähr­li­chen Wachs­tums­ra­ten der preis­be­rei­nig­ten ver­füg­ba­ren Ein­kom­men für jedes Ein­kom­men­sper­zen­til in Deutsch­land im Zeit­raum von 1991 bis 2021[7]. Dabei zeigt sich ein kla­res Mus­ter: Je höher das Ein­kom­men, desto höher sind in der Regel auch die Wachs­tums­ra­ten. Im unte­ren Vier­tel der Ein­kom­mens­ver­tei­lung sind die rea­len Ein­kom­men im Mit­tel sogar gesunken.

Diese Ten­denz spie­gelt sich auch in den drei ver­schie­de­nen Durch­schnitts­wer­ten wider. Der Plu­to­kra­ti­sche Durch­schnitt mit einem jähr­li­chen Wachs­tum von etwa 0,7% wird ledig­lich von einer Min­der­heit im obe­ren Bereich der Ein­kom­mens­ver­tei­lung erreicht. Aus die­sem Grund sind Pro-Kopf-Indi­ka­to­ren wie das BIP pro Kopf als Maß­stäbe für den durch­schnitt­li­chen Wohl­stand unge­eig­net. Das BIP sollte daher viel­mehr für den Zweck genutzt wer­den, für den es ursprüng­lich ent­wi­ckelt wurde: als Indi­ka­tor für die Ent­wick­lung der Gesamt­wirt­schaft und der natio­na­len Produktionskapazitäten.

Die durch­schnitt­li­che Ein­kom­mens­ent­wick­lung wird vom Demo­kra­ti­schen Durch­schnitt viel bes­ser erfasst. Der Wert ent­spricht in etwa der Ein­kom­mens­ent­wick­lung des Medi­ans. Er beschreibt die Ein­kom­mens­ver­än­de­rung einer hypo­the­ti­schen Per­son, die im Laufe eines Jah­res die Ein­kom­mens­ver­än­de­run­gen aller Men­schen in der Bevöl­ke­rung jeweils antei­lig mit­er­lebt. Auf­grund die­ser Eigen­schaft beschreibt der Demo­kra­ti­sche Durch­schnitt viel bes­ser, wie die Mehr­heit der Bür­ger die wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung erlebt. Die Ein­kom­men die­ser hypo­the­ti­schen Per­son stie­gen in den letz­ten drei Jahr­zehn­ten mit durch­schnitt­lich 0,25% pro Jahr deut­lich lang­sa­mer als der Plu­to­kra­ti­sche Durchschnitt.

Der Ega­li­täre Durch­schnitt deu­tet sogar auf einen Rück­gang der durch­schnitt­li­chen Ein­kom­men hin. In der ega­li­tä­ren Gewich­tung sind die Ein­kom­men jähr­lich im Schnitt um 0,2% gesun­ken. Dies ist ins­be­son­dere auf die star­ken Ein­kom­mens­ver­luste in den unte­ren Ein­kom­mens­grup­pen zurückzuführen.

Die Einkommensungleichheit steigt

Ein wach­sen­des Durch­schnitts­ein­kom­men ist in den letz­ten Jah­ren über­haupt nur durch die Linse des plu­to­kra­ti­schen Gewich­tung erkenn­bar, wie die fol­gende Abbil­dung zeigt. Wäh­rend das Demo­kra­ti­sche Durch­schnitts­ein­kom­men seit Mitte der 2000er Jahre sta­gniert, ist das Ega­li­täre Durch­schnitts­ein­kom­men sogar um etwa 2.000 Euro gesun­ken. Kurz gesagt: Ein schein­ba­rer Zuwachs an all­ge­mei­nem Wohl­stand tritt nur dann zutage, wenn man die höhe­ren Wachs­tums­ra­ten der wohl­ha­ben­de­ren Bevöl­ke­rungs­grup­pen über­pro­por­tio­nal stark berücksichtigt.

Die stei­gen­den Unter­schiede zwi­schen plu­to­kra­ti­scher und alter­na­ti­ven Berech­nungs­wei­sen wei­sen auf einen Anstieg der Ungleich­heit im Beob­ach­tungs­zeit­raum hin. Die Lücke zwi­schen dem Plu­to­kra­ti­schen und dem Demo­kra­ti­schen Durch­schnitts­ein­kom­men dient als anschau­li­cher Indi­ka­tor für diese Ungleich­heit. Die Dif­fe­renz der bei­den Durch­schnitts­werte zeigt, wie viel höher das Durch­schnitts­ein­kom­men im Ver­gleich zum Ein­kom­men einer durch­schnitt­li­chen Per­son ist. Log­arith­miert man diese bei­den Durch­schnitts­werte, erhält man ein Ungleich­heits­maß, das der mitt­le­ren log­arith­mi­schen Abwei­chung ent­spricht (Ada­mou, Ber­man und Peters 2020). Die mitt­lere log­arith­mi­sche Abwei­chung kann dadurch nähe­rungs­weise als pro­zen­tua­ler Unter­schied zwi­schen dem Plu­to­kra­ti­schen und Demo­kra­ti­schen Durch­schnitt inter­pre­tie­ren werden.

Abbil­dung 2 und 3 zei­gen, dass die durch­schnitt­li­chen Ein­kom­men in den letz­ten Jah­ren deut­lich schnel­ler gestie­gen sind, als die Ein­kom­men der brei­ten Mehr­heit. Wäh­rend der Abstand zwi­schen den Plu­to­kra­ti­schen und Demo­kra­ti­schen Durch­schnitts­ein­kom­men am Anfang der 90er Jahre noch 4000 Euro (bzw. 20 Pro­zent) betrug, hat sich die Distanz seit­dem auf über 8000 Euro (bzw. 30 Pro­zent) aus­ge­wei­tet. Die­ser Zuwachs ist vor allem auf die deut­li­che Ein­kom­mens­stei­ge­rung im obe­ren Seg­ment der Ein­kom­mens­ver­tei­lung zurück­zu­füh­ren, die den Plu­to­kra­ti­schen Durch­schnitt in die Höhe treibt, wäh­rend ihr Ein­fluss auf den Demo­kra­ti­schen Durch­schnitt eher gering ausfällt.

Ein ganzheitlicher Blick auf den Wohlstand

Ange­sichts wach­sen­der Ungleich­heit erweist sich der Plu­to­kra­ti­sche Durch­schnitt, wie etwa das BIP pro Kopf, als immer weni­ger geeig­net für die Dar­stel­lung der rea­len Lebens­ver­hält­nisse der Mehr­heit der Men­schen. Das BIP pro Kopf war nie dafür aus­ge­legt, viel­schich­tige Aspekte des Wohl­stands wie Gesund­heit oder Umwelt­schutz zu erfas­sen. Doch selbst bei sei­ner Kern­funk­tion – der Abbil­dung der durch­schnitt­li­chen wirt­schaft­li­chen Situa­tion – zeigt es gra­vie­rende Män­gel. Es spie­gelt haupt­säch­lich die wirt­schaft­li­che Situa­tion der Wohl­ha­ben­den wider und ist daher als uni­ver­sel­ler Indi­ka­tor für Wohl­stand zuneh­mend ungeeignet.

Erst in Kom­bi­na­tion mit dem Demo­kra­ti­schen und dem Ega­li­tä­ren Durch­schnitt ergibt sich ein dif­fe­ren­zier­te­res und rea­li­täts­nä­he­res Bild der wirt­schaft­li­chen Lagen der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger. Wäh­rend der Demo­kra­ti­sche Durch­schnitt eine genauere Ein­schät­zung der Ein­kom­mens­ent­wick­lung der brei­ten Bevöl­ke­rung lie­fert, kon­zen­triert sich der Ega­li­täre Durch­schnitt – spie­gel­bild­lich zum Plu­to­kra­ti­schen Durch­schnitt – auf die finan­zi­el­len Ver­hält­nisse der ein­kom­mens­schwä­che­ren Bevöl­ke­rungs­grup­pen. Nur so kann die wirt­schaft­li­che Rea­li­tät aller Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in ihrer vol­len Kom­ple­xi­tät erfasst wer­den – und nicht nur den Wohl­stand an der Spitze.

1 Das Brut­to­na­tio­nal­ein­kom­men (BNE) berück­sich­tigt, im Gegen­satz zum BIP auch grenz­über­schrei­tende Ein­kom­mens­ströme. Da die Unter­schiede zwi­schen BIP und BNE jedoch in den meis­ten Fäl­len sehr gering sind, wird in die­sem Text das geläu­fi­gere BIP ver­wen­det.

2 Die Bezeich­nung geht auf eine Stu­die von Ada­mou, Ber­man and Peters (2020) zurück.

3 Die Gewichte erge­ben sich, indem man das inverse Ein­kom­men durch die Summe aller inver­sen Ein­kom­men teilt. Für Anna berech­net sich das bei­spiels­weise fol­gen­der­ma­ßen: \frac{x_{i}^{-1}}{\sum x_{j}^{-1}}=\frac{\frac{1}{10000}}{\frac{1}{10000}+\frac{1}{2000}+\frac{1}{2000}+\frac{1}{2000}}=\frac{1}{16}

4 Die Bezeich­nung „Plu­to­kra­tisch“ geht zurück auf Mila­no­vic (2007, S. 34).

5 Die Gewichte erge­ben sich, in dem man das Ein­kom­men durch die Summe aller Ein­kom­men teilt. Für Anna erhält man bei­spiels­weise: \frac{x_{i}}{\sum x_{j}}=\frac{10000}{10000+2000+2000+2000}=\frac{5}{8}

6 Der Plu­to­kra­ti­sche Durch­schnitt der Wachs­tums­rate ent­spricht daher der Wachs­tums­rate des arith­me­ti­schen Mit­tels der Ein­kom­men. Ana­log dazu ent­spricht der Demo­kra­ti­sche Durch­schnitt der Wachs­tums­rate des geo­me­tri­schen Mit­tels und der Ega­li­täre Durch­schnitt der Wachs­tums­rate des har­mo­ni­schen Mit­tels.

7 Die ver­füg­ba­ren Ein­kom­men eig­nen sich in die­sem Zusam­men­hang bes­ser als das BIP als Maß­stab für die Durch­schnitts­ein­kom­men. Das BIP ent­hält einige Kom­po­nen­ten, wie staat­li­che Aus­ga­ben für Ver­tei­di­gung und Kli­ma­schutz, die nur sehr schwie­rig sinn­voll auf indi­vi­du­elle Ein­kom­men umge­legt wer­den kön­nen. Die Berech­nun­gen basie­ren auf den preis­be­rei­nig­ten ver­füg­ba­ren Ein­kom­men für Erwach­sene (20+ Jahre) in Deutsch­land von 1991 bis 2021, wobei die Ein­kom­men gleich­mä­ßig pro Erwach­se­nen auf­ge­teilt („equal-split adult“) und nur die Per­zen­tile 6 bis 100 berück­sich­tigt wer­den. Dies ist ein gän­gi­ges Vor­ge­hen (Ada­mou et al., 2020; Mila­no­vić, 2007), da die Daten in die­sem Bereich einer hohen Unsi­cher­heit unter­lie­gen und die (nega­ti­ven) Wachs­tums­ra­ten sehr hoch sind, sodass sie den demo­kra­ti­schen und ins­be­son­dere den ega­li­tä­ren Durch­schnitt über­mä­ßig beein­flus­sen wür­den.

Ada­mou, A., Ber­man, Y. and Peters, O. (2020). The Two Growth Rates of the Eco­nomy.

Mila­no­vić, B. (2007). Worlds apart: mea­su­ring inter­na­tio­nal and glo­bal ine­qua­lity.

Saez, E., & Zuc­man, G. (2020). The tri­umph of inju­s­tice.

Kurz zusammengefasst

Das Brut­to­in­lands­pro­dukt (BIP) pro Kopf ist nach wie vor das am häu­figs­ten ver­wen­dete Maß für den durch­schnitt­li­chen Wohl­stand einer Nation. Dabei wird häu­fig über­se­hen, dass die Maß­zahl vor­ran­gig die Ein­kom­mens­ent­wick­lung der Wohl­ha­ben­den wider­spie­gelt. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass das BIP pro Kopf ein gewich­te­ter Durch­schnitt der indi­vi­du­el­len Wachs­tums­ra­ten ist, wobei höhere Ein­kom­men stär­ker berück­sich­tigt wer­den. Eine sol­che Gewich­tung ist jedoch kei­nes­wegs unver­meid­lich. Alter­na­tive Gewich­tun­gen, zum Bei­spiel ein demo­kra­ti­scher Durch­schnitt, der das Ein­kom­mens­wachs­tum aller Indi­vi­duen gleich­wer­tig ein­be­zieht, könn­ten die tat­säch­li­che durch­schnitt­li­che Ent­wick­lung der Ein­kom­men bes­ser darstellen.