Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist nach wie vor das am häufigsten verwendete Maß für den Wohlstand eines Landes. Allerdings verbirgt sich hinter diesem weitgehend akzeptierten Indikator eine weniger bekannte Tatsache: Es spiegelt vorrangig die wirtschaftliche Situation der Reichen wider.
eld ist nicht alles. Das hat auch die Bundesregierung erkannt und sucht aktuell nach neuen Wegen, um Wohlstand jenseits des reinen Wirtschaftswachstums zu messen. Dabei sollen soziale und ökologische Faktoren stärker in den Vordergrund rücken. Dies ist zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung, um eine umfassendere Darstellung des Lebensstandards und der Lebensqualität zu ermöglichen.
Trotzdem spielen wirtschaftliche Indikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf[1] weiterhin eine zentrale Rolle bei der Beurteilung des allgemeinen Wohlstands. Und das aus gutem Grund: Die materiellen Grundlagen, die durch diese Kennzahlen abgebildet werden, sind nach wie vor ein ganz zentraler Aspekt des Lebensstandards.
Um diesen Aspekt des Lebensstandards zu erfassen, greift die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht aktuell auf Kennzahlen wie das Nationaleinkommen pro Kopf, das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen und die Entwicklung der Reallöhne zurück. Doch so informativ diese Durchschnittszahlen auch sein mögen – sie haben eine zentrale Schwäche: Sie erfassen die Einkommenssituation in einer Weise, die den Einkommen der wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen eine überproportionale Bedeutung zuweist.
Mathematisch gesehen ist etwa das Wachstum des BIP pro Kopf – die klassische Kennzahl jeder Wirtschaftsberichterstattung – ein gewichteter Durchschnitt, in dem die Einkommenssteigerungen der Wohlhabenden stärker berücksichtigt werden. Diese Kennzahl gibt Auskunft über das Wachstum des durchschnittlichen Einkommens und nicht über das Wachstum des Einkommens einer durchschnittlichen Person.
Der Autor
Jonas Schulte ist Student im MA Sozioökonomie und wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Sozioökonomie der Universität Duisburg-Essen.
Diese Form der Gewichtung ist allerdings keineswegs unvermeidlich, sondern entspringt den normativen Annahmen, die der Interpretation des BIP als Messgröße typischerweise zugrunde gelegt werden. Ein auf alternativen Annahmen basierender Indikator für die Entwicklung der durchschnittlichen Einkommen könnte beispielsweise jede Person gleichberechtigt einbeziehen oder sogar Menschen mit niedrigerem Einkommen – die stärker von Einkommenszuwächsen abhängig sind, um einen gewissen Lebensstandard zu sichern – stärker berücksichtigen.
Die Bedeutung der Gewichtung bei der Durchschnittsberechnung
Ein einfaches Zahlenbeispiel soll drei Varianten einer solchen Maßzahl veranschaulichen. Die nachfolgende Tabelle zeigt die hypothetische Einkommensentwicklung aller Einwohnerinnen und Einwohner. Aus Gründen der Einfachheit beschränken wir uns hier auf vier Personen, doch die nachfolgenden Berechnungsmethoden wären identisch, selbst wenn sie auf 84 Millionen Menschen angewendet würden.
Name | Einkommen im letzten Jahr | Einkommen in diesem Jahr | Wachstumsrate |
---|---|---|---|
Anna | 10000 | 16000 | 60% |
Bernd | 2000 | 1600 | -20% |
Carla | 2000 | 1600 | -20% |
Daniel | 2000 | 1600 | -20% |
Angenommen, Ihnen wird die Aufgabe übertragen, einen Indikator zu berechnen, der die durchschnittliche Entwicklung der Einkommen in einer aussagekräftigen und fairen Weise darstellt. Wie würden Sie die verschiedenen Einkommensveränderungen gewichten?
Demokratischer Durchschnitt: Eine Person, eine Stimme
Auf den ersten Blick könnte die Frage trivial erscheinen. Ein intuitiver Ansatz wäre, den Durchschnitt der individuellen Wachstumsraten zu berechnen:
\frac{60\% – 20 \%-20\%-20\%}{4}=0\%
Dieser Wert von 0 Prozent zeigt, dass die Einkommen im Durchschnitt weder gestiegen noch gesunken sind. Die hohe Wachstumsrate von Anna gleicht die negativen Wachstumsraten von Bernd, Carla und Daniel aus.
In diesem Verfahren fließen die Wachstumsraten aller Personen gleichberechtigt in die Berechnung des Durchschnitts ein. Dies spiegelt das demokratische Prinzip „Eine Person, eine Stimme“ wider, weshalb man dieses Verfahren als Demokratischen Durchschnitt[2] bezeichnen kann. Dabei ist zu beachten, dass das Berechnungsverfahren auf der normativen Entscheidung basiert, alle individuellen Wachstumsraten gleichwertig in die Durchschnittsberechnung einzubeziehen – anstelle der Wachstumsrate des durchschnittlichen Einkommens zählt hier die durchschnittliche Wachstumsrate der Einkommen.
Egalitärer Durchschnitt: Geringe Einkommen stärker berücksichtigen
In diesem Zusammenhang lässt sich argumentieren, dass der Demokratische Durchschnitt die realen Lebensstandards nur unzureichend abbildet, da die hohe Ungleichheit in den Daten nicht berücksichtigt wird. Eine Reduzierung des Einkommens hat umso gravierendere Auswirkungen auf den Lebensstandard, je geringer das ursprüngliche Einkommen ist.
Um diesen Aspekt zu berücksichtigen, kann die Wachstumsrate der Personen mit dem niedrigsten Einkommen stärker in die Durchschnittsberechnung einbezogen werden. Wir bezeichnen dieses Vorgehen als Egalitären Durchschnitt. Gewichtet man die Wachstumsraten indirekt proportional zum Einkommen[3], ergibt sich folgender Wert:
\frac{1}{16}60\%+\frac{5}{16}(-20\%)+\frac{5}{16}(-20\%)+\frac{5}{16}(-20\%) = ‑15\%
Gemäß dem Egalitären Durchschnitt sind die Einkommen durchschnittlich um 15 Prozent gesunken. Dieser Indikator repräsentiert die tatsächliche Einkommensentwicklung von Personen mit niedrigerem Einkommen – in diesem Fall Bernd, Carla und Daniel – deutlich präziser als der Demokratische Durchschnitt. Allerdings spiegelt er die positive Einkommensentwicklung von Personen mit höherem Einkommen, wie Anna, kaum wider.
Plutokratischer Durchschnitt: Ein Euro, eine Stimme
Statt die Ärmsten wie beim Egalitären Durchschnitt stärker in der Durchschnittsberechnung zu berücksichtigen, kann man argumentieren, dass Personen mit hohem Einkommen eine besonders tragende Rolle in der Wirtschaft spielen und daher in der Berechnung stärker reflektiert werden sollten. Dies führt uns zu einer dritten Methode, die in Anlehnung an den Ungleichheitsforscher Branco Milanović[4] als Plutokratischer Durchschnitt bezeichnet werden kann.
Bei dieser Methode werden die Wachstumsraten entsprechend der Höhe der Einkommen gewichtet[5]. Für unser Beispiel ergibt sich folgender Wert:
\frac{5}{8}60\%+\frac{1}{8}(-20\%)+\frac{1}{8}(-20\%)+\frac{1}{8}(-20\%) = 30\%
Der Plutokratische Durchschnitt zeigt einen Anstieg der durchschnittlichen Einkommen um 30 Prozent. Diese Maßzahl spiegelt die Realität von Bernd, Carla und Daniel, den Personen mit niedrigerem Einkommen, kaum wider und wird vor allem durch die Einkommensentwicklung von Anna dominiert, also der Person mit dem höchsten Einkommen.
Wessen Lebensrealität wird abgebildet?
Jedes dieser drei Verfahren stellt auf seine Art einen plausiblen Weg zur Darstellung der durchschnittlichen Einkommensentwicklung dar. Doch welches Verfahren die treffendste Aussagekraft hat, hängt schlussendlich von individuellen normativen Präferenzen ab:
Der Demokratische Durchschnitt verleiht jedem Individuum die gleiche Bedeutung, während der Egalitäre Durchschnitt eine stärkere Berücksichtigung der ärmeren Bevölkerung vorsieht und der Plutokratische Durchschnitt die Wachstumsraten der Reichen stärker gewichtet.
Welches Verfahren am besten als Maßstab für die durchschnittliche Entwicklung der Einkommen geeignet ist, führt letztendlich zur zentralen Frage: Wessen Lebensrealität soll abgebildet werden?
Dieser Blogbeitrag entstand als Studienleistung im Rahmen einer Lehrveranstaltung im MA Sozioökonomie. Der MA Sozioökonomie ist der Masterstudiengang des Instituts für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen. Ökonomische Zusammenhänge werden aus einer pluralen, interdisziplinären und anwendungsorientierten Perspektive behandelt.
Das Bruttoinlandsprodukt entspricht dem plutokratischen Durchschnitt
Als Gesellschaft haben wir diese Frage – oft ohne uns dessen bewusst zu sein – durch die Wahl des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Kopf als zentralen Wohlstandsindikator beantwortet. Das BIP pro Kopf spiegelt vorrangig die Lebensrealität der Reichen wider, da es faktisch dem plutokratischen Ansatz entspricht.
Auf den ersten Blick mag dies nicht offensichtlich erscheinen, da das BIP pro Kopf in der Praxis nicht direkt aus individuellen Wachstumsraten abgeleitet wird, sondern sich aus der Summe aller Einkommen (BIP) geteilt durch die Anzahl der Personen ergibt.[6] Das BIP pro Kopf beträgt in unserem Zahlenbeispiel für das vorangegangen Jahr 4.000 Euro ((10000+2000+2000+2000)÷4). Für das aktuelle Jahr beträgt das Pro-Kopf-Einkommen 5.200 Euro. Aus diesen Werten kann man die Wachstumsrate berechnen:
\frac{5200–4000}{4000}= 30\%
Das Wachstum des BIP pro Einwohner um 30% entspricht genau dem Ergebnis des Plutokratischen Durchschnitts. Und dies ist kein Zufall. Das Wachstum des BIP pro Kopf ist lediglich ein anderer Rechenweg für den Plutokratischen Durchschnitt, ist aber mathematisch identisch.
Der Zusammenhang wird deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass das BIP nicht davon abhängt, wer die Einkommen erhält. Wenn das Einkommen einer reichen Person um 10% steigt, hat dies einen deutlich stärkeren Einfluss auf das BIP als der gleiche prozentuale Anstieg des Einkommens einer ärmeren Person. Das BIP basiert auf dem plutokratischen Prinzip „Ein Euro, eine Stimme“ und nicht auf dem demokratischen Ansatz „Eine Person, eine Stimme“.
Eine solche Gewichtung hat Auswirkungen für die Interpretation des BIP als Indikator für Wohlstand – der daher nicht notwendigerweise repräsentativ für die durchschnittliche Situation der Bevölkerung ist. Der Indikator neigt dazu, die finanziellen Verhältnisse der Reichen stärker zu reflektieren, während die Lebensumstände der weniger Begünstigten nur marginal einfließen. Selbst hohe Einkommensverluste bei Personen mit geringen Einkommen haben kaum einen Einfluss auf das BIP.
In der Praxis bedeutet dies auch, dass bei steigender Ungleichheit – definiert als eine Situation, in der die oberen Einkommens durchschnittlich schneller wachsen – die gemessenen BIP-Wachstumsraten im Plutokratischen Durchschnitt höher ausfallen, während, umgekehrt, bei Verwendung eines Demokratischen oder Egalitären Durchschnitts höhere Wachstumsraten dann erreicht werden, wenn die Ungleichheit zurückgeht.
Alternative Indikatoren
Diese Problematik beschränkt sich nicht nur auf das BIP pro Kopf. Auch andere Pro-Kopf-Durchschnittswerte, wie die Reallöhne pro Kopf oder die verfügbaren Einkommen pro Kopf, tendieren dazu, vor allem die Einkommensentwicklung der oberen Einkommensschichten widerzuspiegeln.
Ungleichheitsforscher schlagen daher vor, neben dem Bruttoinlandsprodukt auch den Demokratischen Durchschnitt als politische Messgröße zu etablieren. In der Wissenschaft wird dieses Konzept unter verschiedenen Begrifflichkeiten erfasst. Branko Milanović, Emmanuel Saez und Gabriel Zucman verwenden beispielsweise den Begriff „people’s growth“, während Alexander Adamou, Yonatan Berman und Ole Peters vom „Democratic Domestic Product“ (Demokratisches Inlandsprodukt) sprechen.
Unabhängig von der genauen Bezeichnung bietet die kombinierte Nutzung aller drei Durchschnittswerte eine Vielzahl an Vorteilen. Sie liefern wichtige und doch unterschiedliche Informationen über den Zustand der Wirtschaft, da sie verschiedene Bereiche der Einkommensverteilung in den Mittelpunkt stellen.
Aktuell beschränkt sich die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht auf die Veröffentlichung des Plutokratischen Durchschnitts (und zwar nicht nur beim BIP, sondern auch bei den verfügbaren Einkommen und den Reallöhnen). Weder der Demokratische noch der Egalitäre Durchschnitt finden Berücksichtigung, da dem Statistischen Bundesamt detaillierte Daten zur Einkommensverteilung – anders als beispielsweise in Schweden oder Norwegen – fehlen. Allerdings können diese Kennzahlen relativ einfach geschätzt werden, in dem man bereits vorhandene, umfangreiche Daten zur Einkommensverteilung nutzt, wie sie etwa in der World Inequality Database (WID) zu finden sind.
Im Mittel wachsen die Einkommen deutlich langsamer als angenommen
Die Ergebnisse einer solchen Schätzung sind in den folgenden Grafiken dargestellt. Abbildung 1 illustriert die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten der preisbereinigten verfügbaren Einkommen für jedes Einkommensperzentil in Deutschland im Zeitraum von 1991 bis 2021[7]. Dabei zeigt sich ein klares Muster: Je höher das Einkommen, desto höher sind in der Regel auch die Wachstumsraten. Im unteren Viertel der Einkommensverteilung sind die realen Einkommen im Mittel sogar gesunken.
Diese Tendenz spiegelt sich auch in den drei verschiedenen Durchschnittswerten wider. Der Plutokratische Durchschnitt mit einem jährlichen Wachstum von etwa 0,7% wird lediglich von einer Minderheit im oberen Bereich der Einkommensverteilung erreicht. Aus diesem Grund sind Pro-Kopf-Indikatoren wie das BIP pro Kopf als Maßstäbe für den durchschnittlichen Wohlstand ungeeignet. Das BIP sollte daher vielmehr für den Zweck genutzt werden, für den es ursprünglich entwickelt wurde: als Indikator für die Entwicklung der Gesamtwirtschaft und der nationalen Produktionskapazitäten.
Die durchschnittliche Einkommensentwicklung wird vom Demokratischen Durchschnitt viel besser erfasst. Der Wert entspricht in etwa der Einkommensentwicklung des Medians. Er beschreibt die Einkommensveränderung einer hypothetischen Person, die im Laufe eines Jahres die Einkommensveränderungen aller Menschen in der Bevölkerung jeweils anteilig miterlebt. Aufgrund dieser Eigenschaft beschreibt der Demokratische Durchschnitt viel besser, wie die Mehrheit der Bürger die wirtschaftliche Entwicklung erlebt. Die Einkommen dieser hypothetischen Person stiegen in den letzten drei Jahrzehnten mit durchschnittlich 0,25% pro Jahr deutlich langsamer als der Plutokratische Durchschnitt.
Der Egalitäre Durchschnitt deutet sogar auf einen Rückgang der durchschnittlichen Einkommen hin. In der egalitären Gewichtung sind die Einkommen jährlich im Schnitt um 0,2% gesunken. Dies ist insbesondere auf die starken Einkommensverluste in den unteren Einkommensgruppen zurückzuführen.
Die Einkommensungleichheit steigt
Ein wachsendes Durchschnittseinkommen ist in den letzten Jahren überhaupt nur durch die Linse des plutokratischen Gewichtung erkennbar, wie die folgende Abbildung zeigt. Während das Demokratische Durchschnittseinkommen seit Mitte der 2000er Jahre stagniert, ist das Egalitäre Durchschnittseinkommen sogar um etwa 2.000 Euro gesunken. Kurz gesagt: Ein scheinbarer Zuwachs an allgemeinem Wohlstand tritt nur dann zutage, wenn man die höheren Wachstumsraten der wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen überproportional stark berücksichtigt.
Die steigenden Unterschiede zwischen plutokratischer und alternativen Berechnungsweisen weisen auf einen Anstieg der Ungleichheit im Beobachtungszeitraum hin. Die Lücke zwischen dem Plutokratischen und dem Demokratischen Durchschnittseinkommen dient als anschaulicher Indikator für diese Ungleichheit. Die Differenz der beiden Durchschnittswerte zeigt, wie viel höher das Durchschnittseinkommen im Vergleich zum Einkommen einer durchschnittlichen Person ist. Logarithmiert man diese beiden Durchschnittswerte, erhält man ein Ungleichheitsmaß, das der mittleren logarithmischen Abweichung entspricht (Adamou, Berman und Peters 2020). Die mittlere logarithmische Abweichung kann dadurch näherungsweise als prozentualer Unterschied zwischen dem Plutokratischen und Demokratischen Durchschnitt interpretieren werden.
Abbildung 2 und 3 zeigen, dass die durchschnittlichen Einkommen in den letzten Jahren deutlich schneller gestiegen sind, als die Einkommen der breiten Mehrheit. Während der Abstand zwischen den Plutokratischen und Demokratischen Durchschnittseinkommen am Anfang der 90er Jahre noch 4000 Euro (bzw. 20 Prozent) betrug, hat sich die Distanz seitdem auf über 8000 Euro (bzw. 30 Prozent) ausgeweitet. Dieser Zuwachs ist vor allem auf die deutliche Einkommenssteigerung im oberen Segment der Einkommensverteilung zurückzuführen, die den Plutokratischen Durchschnitt in die Höhe treibt, während ihr Einfluss auf den Demokratischen Durchschnitt eher gering ausfällt.
Ein ganzheitlicher Blick auf den Wohlstand
Angesichts wachsender Ungleichheit erweist sich der Plutokratische Durchschnitt, wie etwa das BIP pro Kopf, als immer weniger geeignet für die Darstellung der realen Lebensverhältnisse der Mehrheit der Menschen. Das BIP pro Kopf war nie dafür ausgelegt, vielschichtige Aspekte des Wohlstands wie Gesundheit oder Umweltschutz zu erfassen. Doch selbst bei seiner Kernfunktion – der Abbildung der durchschnittlichen wirtschaftlichen Situation – zeigt es gravierende Mängel. Es spiegelt hauptsächlich die wirtschaftliche Situation der Wohlhabenden wider und ist daher als universeller Indikator für Wohlstand zunehmend ungeeignet.
Erst in Kombination mit dem Demokratischen und dem Egalitären Durchschnitt ergibt sich ein differenzierteres und realitätsnäheres Bild der wirtschaftlichen Lagen der Bürgerinnen und Bürger. Während der Demokratische Durchschnitt eine genauere Einschätzung der Einkommensentwicklung der breiten Bevölkerung liefert, konzentriert sich der Egalitäre Durchschnitt – spiegelbildlich zum Plutokratischen Durchschnitt – auf die finanziellen Verhältnisse der einkommensschwächeren Bevölkerungsgruppen. Nur so kann die wirtschaftliche Realität aller Bürgerinnen und Bürger in ihrer vollen Komplexität erfasst werden – und nicht nur den Wohlstand an der Spitze.
1 Das Bruttonationaleinkommen (BNE) berücksichtigt, im Gegensatz zum BIP auch grenzüberschreitende Einkommensströme. Da die Unterschiede zwischen BIP und BNE jedoch in den meisten Fällen sehr gering sind, wird in diesem Text das geläufigere BIP verwendet. ↑
2 Die Bezeichnung geht auf eine Studie von Adamou, Berman and Peters (2020) zurück. ↑
3 Die Gewichte ergeben sich, indem man das inverse Einkommen durch die Summe aller inversen Einkommen teilt. Für Anna berechnet sich das beispielsweise folgendermaßen: \frac{x_{i}^{-1}}{\sum x_{j}^{-1}}=\frac{\frac{1}{10000}}{\frac{1}{10000}+\frac{1}{2000}+\frac{1}{2000}+\frac{1}{2000}}=\frac{1}{16} ↑
4 Die Bezeichnung „Plutokratisch“ geht zurück auf Milanovic (2007, S. 34). ↑
5 Die Gewichte ergeben sich, in dem man das Einkommen durch die Summe aller Einkommen teilt. Für Anna erhält man beispielsweise: \frac{x_{i}}{\sum x_{j}}=\frac{10000}{10000+2000+2000+2000}=\frac{5}{8} ↑
6 Der Plutokratische Durchschnitt der Wachstumsrate entspricht daher der Wachstumsrate des arithmetischen Mittels der Einkommen. Analog dazu entspricht der Demokratische Durchschnitt der Wachstumsrate des geometrischen Mittels und der Egalitäre Durchschnitt der Wachstumsrate des harmonischen Mittels. ↑
7 Die verfügbaren Einkommen eignen sich in diesem Zusammenhang besser als das BIP als Maßstab für die Durchschnittseinkommen. Das BIP enthält einige Komponenten, wie staatliche Ausgaben für Verteidigung und Klimaschutz, die nur sehr schwierig sinnvoll auf individuelle Einkommen umgelegt werden können. Die Berechnungen basieren auf den preisbereinigten verfügbaren Einkommen für Erwachsene (20+ Jahre) in Deutschland von 1991 bis 2021, wobei die Einkommen gleichmäßig pro Erwachsenen aufgeteilt („equal-split adult“) und nur die Perzentile 6 bis 100 berücksichtigt werden. Dies ist ein gängiges Vorgehen (Adamou et al., 2020; Milanović, 2007), da die Daten in diesem Bereich einer hohen Unsicherheit unterliegen und die (negativen) Wachstumsraten sehr hoch sind, sodass sie den demokratischen und insbesondere den egalitären Durchschnitt übermäßig beeinflussen würden. ↑
Adamou, A., Berman, Y. and Peters, O. (2020). The Two Growth Rates of the Economy.
Milanović, B. (2007). Worlds apart: measuring international and global inequality.
Saez, E., & Zucman, G. (2020). The triumph of injustice.
Kurz zusammengefasst
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf ist nach wie vor das am häufigsten verwendete Maß für den durchschnittlichen Wohlstand einer Nation. Dabei wird häufig übersehen, dass die Maßzahl vorrangig die Einkommensentwicklung der Wohlhabenden widerspiegelt. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass das BIP pro Kopf ein gewichteter Durchschnitt der individuellen Wachstumsraten ist, wobei höhere Einkommen stärker berücksichtigt werden. Eine solche Gewichtung ist jedoch keineswegs unvermeidlich. Alternative Gewichtungen, zum Beispiel ein demokratischer Durchschnitt, der das Einkommenswachstum aller Individuen gleichwertig einbezieht, könnten die tatsächliche durchschnittliche Entwicklung der Einkommen besser darstellen.