Der diesjährige Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften geht an einen Forscher, der die Forschung zur Wirkung von Mindestlöhnen in der Mainstream-VWL revolutioniert hat – indem er sich Fast-Food-Restaurants anschaute.
er in einem Fast Food-Restaurant Burger brutzelt, wird selten über dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt. Einer der Gewinner des diesjährigen Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften hat sich angesehen, was passiert, wenn eben dieser steigt. Die Ergebnisse haben in den 1990er-Jahren eine ganze wissenschaftliche Disziplin wachgerüttelt und nachhaltig verändert.
Mit David Card, Joshua Angrist und Guido Imbens reihen sich drei Arbeitsmarktökonomen und Mikroökonometriker in die (zu 98 % männliche) Riege der Nobel-Gedächtnispreisträger*innen für Wirtschaftswissenschaften ein. Einer von ihnen, David Card, hat besonders zur Forschung rund um Mindestlöhne beigetragen. Er liefert Evidenz, die im Kontrast zum neoklassischen Lehrbuch-Modell steht, wonach höhere Mindestlöhne zu weniger Arbeitsplätzen und dadurch zu höherer Arbeitslosigkeit führen sollten. So hat Card 1992 gemeinsam mit dem 2019 verstorbenen Alan Krueger die fragwürdige Logik des freien Marktes, laut der gut bezahlte Arbeitskräfte die Nachfrage nach Arbeit sinken lassen, erstmals entzaubert.
David Card, einer der Preisträger der Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften im Jahr 2021. Ausschnitt aus dem Bild von Roxanne Makasdjian and Alan Toth for the University of California, Berkeley, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons.
Dafür haben die beiden Ökonomen ein sogenanntes „natürliches Experiment“ ausgenutzt: Während in New Jersey 1992 der Mindestlohn erhöht wurde, blieb er im benachbarten Pennsylvania gleich. Da die Bundesstaaten sonst in vielen Aspekten ähnlich sind, nützen Card und Krueger statistische Methoden, sogenannte Difference-in-Differences-Schätzungen, um kausale Effekte zu identifizieren. Ein Effekt gilt dann als kausal, wenn seine Auswirkungen tatsächlich auf einen bestimmten Auslöser zurückgeführt werden können, wenn der Zusammenhang also nicht nur Zufall, sondern ursächlich ist. Die beiden anderen diesjährigen Preisträger, Joshua Angrist und Guido Imbens, sind besonders für ihre Forschung zu Kausalität bekannt und haben die methodischen Instrumente (weiter)entwickelt und angewandt, mit denen solche ursächlichen Zusammenhänge festgestellt werden können.
Eine Revolution in der Mainstream-Ökonomie
Wie sich der Mindestlohn auf Beschäftigung auswirkt, maßen Card und Krueger also, indem sie Fast-Food-Restaurants in beiden Bundesstaaten verglichen, die sie vor und nach der Erhöhung der Mindestlöhne interviewten. Fast-Food-Restaurants sind aus verschiedenen Aspekten für ein natürliches Experiment spannend: sie sind im Niedriglohnsektor zentrale Arbeitgeber*innen, sie orientieren sich stark am Mindestlohn und reagieren daher besonders auf dessen Erhöhung, sie sind einheitlich in ihren Anforderungen an Arbeitnehmer*innen und es gibt kein Trinkgeld, welches die Löhne zusätzlich beeinflusst.
Die Autorin
Lisa Hanzl ist Stipendiatin im Promotionskolleg „Politische Ökonomie der Ungleichheit“ und Ökonomin beim Momentum Institut. Ihre Schwerpunkte: Genderfragen in der Ökonomie, Themen rund um Arbeit, Mikroökonometrie.
Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass der Mindestlohn in New Jersey die Beschäftigung dort erhöhte. Im Vergleich zu Pennsylvania stiegen aber auch die Preise für die Speisen. Das heißt, dass die höheren Löhne auf die Konsument*innen abgewälzt und nicht von den Restaurant-Besitzer*innen selbst getragen wurden. Da die Unternehmer*innen also nicht von den zusätzlichen Kosten durch die Mindestlohnerhöhung betroffen waren, verringerten sie ihr Angebot an Arbeitsplätzen nicht.
Diese Beobachtung hat nicht nur direkte politische Auswirkungen, sondern zeigt auch, dass die Standard-Lehrbuch-Modelle der Wirtschaftswissenschaften oft realitätsfremd und nicht ausreichend sind, um gewisse wirtschaftliche Phänomene zu erklären und deshalb überdacht werden sollten.
Die Politische Ökonomie der Ungleichheit
Das Promotionskolleg „Die Politische Ökonomie der Ungleichheit“ untersucht Ausmaß, Ursachen und Folgen steigender sozioökonomischer Ungleichheit. Materielle Unterschiede stehen dabei im Mittelpunkt, werden aber stets in Zusammenhang zu politischen, sozialen und ökologischen Aspekten gesetzt. Die Forschungspraxis ist von einem interdisziplinären und anwendungsorientierten sozioökonomischen Ansatz geprägt. Zur Übersicht aller Blogbeiträge der Mitglieder aus dem Promotionskolleg
Ein zentrales Ergebnis von Card und Krueger ist, dass ein Mindestlohn in einem Niedriglohnsektor wie der Fast Food-Branche eben keine schädlichen Auswirkungen auf Beschäftigung hat, sondern diese gemeinsam mit den Gehältern sogar steigt. Für diese Erkenntnisse, die die Mainstream-Theorie stark in Frage stellen, wurden die Nobelpreisträger seither besonders von konservativen Ökonom*innen scharf kritisiert. Dass sich die Mainstream-Ökonomie in dem Maß, wie sie es heute tut, auf Daten und empirische Forschung verlässt, ist erst seit den 1990ern, nach der sogenannten „Credibility Revolution“, der Fall. Davor waren besonders theoriegetriebene Ansätze zentral. So haben Card, Angrist und Imbens, gemeinsam mit weiteren Wissenschaftler*innen, die ähnliche Forschung betreiben, mit ihren methodischen Beiträgen nicht nur die Volkswirtschaftslehre verändert, sondern auch, wie mit evidenzbasierter Forschung Politik gemacht wird.
Dieser Beitrag wurde in einer kürzeren Fassung auch auf moment.at veröffentlicht. Er steht unter einer CC BY-SA 4.0 Lizenz.
Kurz zusammengefasst
Im Jahr 2021 geht der Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften unter anderem an David Card. Dieser hat mit seiner empirischen Forschung zur Wirkung von Mindestlöhnen in den 1990er-Jahren die Mainstream-VWL revolutioniert. Er konnte an einem „natürlichen Experiment“ zeigen, dass ein Mindestlohn in einem Niedriglohnsektor keine schädlichen Auswirkungen auf Beschäftigung hat, sondern diese gemeinsam mit den Gehältern sogar steigt.