Im Oktober 2021 stellten sich die Regierungen von 136 Staaten und Jurisdiktionen hinter eine Reform der seit einem Jahrhundert bestehenden internationalen Unternehmensbesteuerung. Eine Policy-Analyse liefert erste Erkenntnisse, wie sich dieser Erfolg erklären lässt.
aut konservativer Schätzung entgehen den öffentlichen Kassen weltweit bis zu 240 Milliarden Euro aufgrund von Steuervermeidungspraktiken multinationaler Unternehmen – das ist etwas mehr als das gesamte BIP Griechenlands im Jahr 2022. In Zeiten von klammen öffentlichen Haushalten und einer profitgetriebenen Inflation ist dieser Umstand politisch äußerst brisant.
Bereits im Juni 2012 unterstrichen die Regierungen der G20 „die Notwendigkeit, die Aushöhlung der Bemessungsgrundlage und die Gewinnverlagerung zu verhindern“. Damit bekräftigten sie das steuerpolitische Mandat der OECD und legten den Grundstein für das Base Erosion and Profit Shifting Projekt (BEPS). Dieses fand mit dem offiziellen Statement zur Reformierung des internationalen Unternehmenssteuersystems im Oktober 2021 seinen vorläufigen Höhepunkt.
Die Ausarbeitung der technischen Details der Umsetzung bietet allerdings noch potenzielle Fallstricke. Regierungen aus Ländern des Globalen Südens kritisierten wiederholt die Dominanz reicher Länder innerhalb der OECD und wünschten sich die Verlagerung zukünftiger Verhandlungen auf die Ebene der UN. In der Schweiz bewertet eine Allianz von Nichtregierungsorganisationen den Deal als Steueroasen-Belohnungspogramm und spricht sich gegen eine Implementierung aus.
Der Autor
Jonas Horn ist Doktorand im Promotionskolleg „Politische Ökonomie der Ungleichheit“ und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Unternehmensbesteuerung der Universität Duisburg-Essen. Seine Schwerpunkte: internationale Unternehmensbesteuerung und (Internationale) Politische Ökonomie.
Trotz der Kritik und dem bisher noch offenen Ausgang der Implementierungsphase werten Stimmen aus der Praxis und der Wissenschaft die Verhandlungen als erfolgreichen Prozess. Wie ist die historisch erstmalige Übereinkunft von mittlerweile 139 Regierungen auf ein Konzept zur Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung zu erklären?
Der ungelöste Konflikt in BEPS 1.0
Bei der seit 2012 vorangetriebenen Reform der Besteuerungsrechte der internationalen Unternehmensbesteuerung handelt es sich um ein Einigungsproblem. Zwar bestand Einigkeit, dass die Aushöhlung der Bemessungsgrundlage multinationaler Konzerne durch die Gewinnverlagerung von Hoch- in Niedrigsteuerländer einzudämmen sei. Doch über das entscheidende Wie herrschte lange Uneinigkeit.
Serie Ungleichheit und Macht
Die wachsende gesellschaftliche Ungleichheit ist eines der bedeutendsten Probleme unserer Zeit. Zugleich steigt das wissenschaftliche Interesse und liefert neue Erkenntnisse mit Blick auf die drängendsten Fragen und Antworten zu verschiedenen Dimensionen der Ungleichheit und ihren zugrundeliegenden Machstrukturen.
Für die Debattenreihe „Ungleichheit und Macht“ haben Doktorand:innen aus dem Promotionskolleg „Politische Ökonomie der Ungleichheit“ am Institut für Sozioökonomie der Universität Duisburg-Essen diese neuen Erkenntnisse aufgeschrieben. In den Beiträgen stellen die Promovierenden, die von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert werden, Teilergebnisse ihrer Forschung vor und diskutieren verbundene gesellschaftliche Herausforderungen sowie politische Handlungsoptionen. Mit dem Fokus auf Ungleichheitsdimensionen und zugrunde liegenden Machtverhältnissen reicht der thematische Bogen von Armut und Besteuerung bis zu Arbeitsmarkt‑, Gleichstellungs- oder Klimapolitik. Durch die thematischen Breite und Vielfalt der eingesetzten Methoden stoßen die Autor:innen eine weiterführende gesellschaftliche Debatte darüber an, wie der steigenden Ungleichheit begegnet werden kann.
Die Reihe erscheint in regelmäßigen Abständen zwischen April und Juni 2023 im Makronom. Hier im ifsoblog dokumentieren wir die Serie anschließend ebenfalls.
Die größte Divergenz in den Positionen fand sich im Verhandlungsprozess bis 2015 unter Aktionspunkt 1, den „steuerlichen Herausforderungen der digitalen Wirtschaft“. Einige Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten forderten speziell auf digitalisierte Geschäftsmodelle zugeschnittene Instrumente, die das Problem der physisch nicht vorhandenen Betriebsstätte im Zusammenhang mit immateriellen Vermögenswerten adressierten. Ein Großteil der Regierungen des Globalen Südens forderte gar eine grundlegende Neuverteilung der Besteuerungsrechte von den Herkunfts- zu den Marktstaaten. Die Regierung der USA blockierte beide Ansätze. Das Ergebnis ist im 288 Seiten umfassende finalen Bericht zu Aktionspunkt 1 zu finden. Dieser hält in der Quintessenz fest, „dass die digitale Wirtschaft nicht abgegrenzt werden kann, da sie zunehmend die Wirtschaft selbst ist“. Im Vergleich zu den übrigen 13 Berichten enthielt derjenige zu Aktionspunkt 1 keine Handlungsempfehlung.
Wie von der OECD bereits 2013 bei einem Ausbleiben einer multilateral abgestimmten Maßnahme prognostiziert, spitzte sich der Konflikt ab 2016 weiter zu. Die Regierungen europäischer, asiatischer und afrikanischer Staaten erließen unilaterale Maßnahmen in Form von nationalen Digitalsteuern zur Besteuerung digitaler Geschäftsmodelle. Die US-amerikanische Regierung in Person von Präsident Trump drohte daraufhin, den bereits schwelenden Handelskonflikt mit „Vergeltungsmaßnahmen“ zu eskalieren.
USA als Vorreiter, Deutschland und Frankreich als politische Unternehmerinnen
Wohl unwissentlich lieferte die Trump-Administration aber bereits im Dezember 2017 eine entscheidende Grundlage für die Lösung des Steuerstreits: Mit dem Tax Cuts and Jobs Act beschloss sie als erster Staat weltweit mit der Global Intangible Low Tax Income (GILTI)-Gesetzgebung eine Besteuerung von Einkünften, die multinationale Konzerne in Niedrigsteuerländern mit Hilfe von immateriellen Güter dort verbucht hatten. Aufbauend auf einer Idee, die bereits die Obama-Administration bewarb, nahm sie damit die Rolle als Vorreiterin in der globalen Mindestbesteuerung multinationaler Konzerne ein.
Delegierte der deutschen Regierung erkannten das Potenzial in dieser Entwicklung: Denn die nationale Einführung einer solchen Mindeststeuer in den USA ermöglichte auf internationaler Ebene einen Vorschlag, der nicht automatisch eine Zustimmung des Kongresses benötigte. Eine deutsch-französische Koalition erarbeitete daraufhin den Entwurf einer global einzuführenden Mindeststeuer und legte diesen dem Inclusive Framework vor. Dieses inklusive Forum richtete die OECD 2016 ein, um auch die Regierungen von Nicht-OECD-Mitgliedsstaaten in die internationalen Verhandlungen einzubeziehen und eine höhere Legitimation für ihr Vorhaben zu erreichen.
In ihrer Rolle als politische Unternehmerin verzeichnete die deutsch-französische Allianz im Januar 2019 einen öffentlichen Erfolg: Im Zwischenbericht zu den Verhandlungen skizzierten die Verantwortlichen der OECD das erste Mal einen aus zwei Säulen bestehenden Ansatz. Säule Eins umfasste die weiterhin aufrecht erhaltene Forderung nach einer Neuverteilung der Besteuerungsrechte von Herkunfts- zu Marktstaaten. Unter Säule Zwei verhandelten die Delegierten neue Instrumente der Besteuerung, die es Jurisdiktionen ermöglichen sollte, zu niedrig besteuerte Umsätze nachzubesteuern. Dieser in zwei Säulen gegossene Paketdeal erhöhte die Wahrscheinlichkeit einer gemeinsamen Kompromissfindung. Für Eingeständnisse in einer der beiden Säulen konnten Regierungen damit rechnen, Schwerpunkte in der anderen Säule zu setzen.
Für die Trump-Regierung stellte Säule Zwei keine Herausforderung dar, da sie in ihren Grundzügen auf dem nationalen GILTI-Régime beruhte. Säule Eins blieb jedoch weiterhin hoch umstritten. Als Lösung schlug Finanzminister Mnuchin vor, dass sich Konzerne auf einer freiwilligen Basis der Neuverteilung der Besteuerungsrechte unter Säule Eins unterwerfen könnten. Nachdem die Finanzminister aus Frankreich, Spanien, Italien und Großbritannien die von ihm vorgeschlagene Safe-Harbor-Regelung ablehnten, nahm Mnuchin die Corona-Pandemie als Anlass, die Gespräche über Säule Eins zu pausieren. Weiterführende Gespräche für eine derart fundamentale Reform der Besteuerungsrechte würden wertvolle Kapazitäten in Anspruch nehmen, die Mnuchin nun für die Rettung der nationalen Wirtschaft vorsah.
Biden-Administration entfacht entscheidende Dynamik
Der finale Schritt Richtung Einigung erfolgte dann nach dem Wechsel der US-Regierung. Finanzministerin Janet Yellen bewarb öffentlich auf internationaler Ebene eine Weiterentwicklung der zweiten Säule. Statt der bis dahin vorgesehenen Berechnung der globalen Konzerneinkünfte als Ganzes (global blending), schlug die Biden-Administration Berechnungen für einzelne Jurisdiktionen vor. Die internationale Einigung sollte wiederum eine Hebelwirkung für die Agenda im Rahmen des American Jobs Plan entfachen: Eine Erhöhung der GILTI-Besteuerung von 12,5% auf 21% und die Umstellung vom global blending auf ein Berechnungsverfahren pro Jurisdiktion. Damit brach die Administration des neuen Präsidenten Biden mit der Leitlinie ihrer Vorgänger, keine internationale Verpflichtung einzugehen, die eine Veränderung der nationalen Gesetzgebung durch den Kongress mit sich bringen würde.
Gleichzeitig signalisierte die US-Regierung mit der Positionierung von Itai Grinberg als Deputy Assistant Secretary, dass unter Säule Eins weiterhin keine auf digitalisierte Geschäftsmodelle fokussierte Regelung zu finden sei. Bereits unter Präsident Barack Obama vertrat Grinberg in selber Funktion vehement die These, dass eine Abgrenzung der digitalen Wirtschaft nicht möglich sei. Stattdessen brachte die Biden-Regierung den Vorschlag ein, Marktstaaten Besteuerungsrechte auf 20% des Gewinns multinationaler Konzerne zuzuteilen, wenn dieser die Marge von 10% übersteigt, unabhängig des Geschäftsmodells. Dieser Vorschlag bot einen Weg aus der Sackgasse, in der sich die Verhandelnden zwischenzeitlich mit der Suche nach einer definitorischen Unterscheidung zwischen digitalen und verbrauchernahen Geschäftsmodellen befunden hatten.
Mit ihrem Bekenntnis zum Zwei-Säulen-Konzept und der Einigung auf die ersten technischen Details signalisierten die Finanzminister:innen der G7 dem Rest der Welt den entscheidenden politischen Willen, eine konkrete Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung anzugehen. Anfang Juli stellten sich 130 Regierungen des Inclusive Frameworks hinter die G7-Einigung und veröffentlichten in einer gemeinsamen Erklärung weitere Details des Zwei-Säulen-Ansatzes. Zwei Wochen später bekräftigten auch die Finanzminister:innen der G20 ihre Unterstützung. Die in erster Linie von der deutschen, französischen und der US-amerikanischen Regierung angetriebene Dynamik gipfelte am 08. Oktober 2021 in einem Statement im Namen des Inclusive Frameworks, mit dem sich 136 Regierungen hinter die technischen Rahmenbedingungen des Zwei-Säulen-Konzeptes stellten.
Mittlerweile stehen die Regierungen von 139 Jurisdiktionen hinter der Reform. Zuletzt schloss sich die Regierung von Kenia an, nachdem eine Erneuerung der nationalen Digitalsteuer im Parlament gescheitert war. Als Regierung der größten Wirtschaftsnation Afrikas lehnte sie bis dahin den Zwei-Säulen Ansatz ab. Sie sah in der Bedingung für Säule Eins, der Abschaffung sämtlicher nationaler Digitalsteuern, einen größeren Verlust an Einnahmen als mit den möglichen Gewinnen aus Säule Eins zu kompensieren sei.
Sanktionsmechanismen treiben Implementierung an
Die Zuversicht, dass auch die Phase der Implementierung erfolgreich vonstattengeht, entspringt einem technischen Detail: Die unter Säule Zwei konzipierte globale Mindeststeuer wirkt in Form eines, für kollektives Handeln notwendigen, effektiven Sanktionsmechanismus. Mit der Zustimmung zum Zwei-Säulen-Konzept räumen Regierungen anderen Jurisdiktionen die Möglichkeit einer Nachbesteuerung ein, sollte eine Differenz zwischen der effektiven Besteuerung und dem beschlossenen Steuersatz von 15% bestehen. Jede Regierung hat demnach den Anreiz zur Einhaltung des effektiven Mindeststeuersatzes, um nicht das Besteuerungsrecht ausländischen Regierungen zu überlassen. Allerdings beschränkt der beschlossene Substance-Carve-Out die Anwendung auf durch immaterielle Güter generierte Umsätze.
Die OECD veröffentlichte im Februar 2023 Leitlinien, wie die GILTI-Regelung, die auf einer globalen Berechnung beruht, mit der Berechnung pro Jurisdiktion innerhalb der zweiten Säule zu vereinbaren ist. Dieses Verfahren ist jedoch vorerst bis zum 30. Juni 2027 beschränkt. Über die Zeit danach herrscht bisweilen Unsicherheit. Der jüngste Versuch der Biden-Regierung zur Anpassung der GILTI-Regelung an Säule Zwei scheiterte trotz einer demokratischen Mehrheit im Senat an einer Stimme. Mit den Gesetzesvorschlägen zur Umsetzung der globalen Mindeststeuer in Großbritannien und Japan sowie der EU-Direktive hat in diesen Jurisdiktionen die Arbeit an der Implementierung begonnen. Sobald diese abgeschlossen ist, kommt auf Konzerne aus den USA ein erheblicher administrativer Mehraufwand zu. Sie müssten sich sowohl der GILTI-Regelung als auch Säule Zwei unterwerfen.
Mit Spannung wird in naher Zukunft zu beobachten sein, wie erfolgreich die in den USA ansässigen betroffenen multinationalen Konzerne im Kongress für eine Anpassung von GILTI an die OECD-Regelungen werben und dafür auch eine erhöhte effektive Besteuerung in Kauf nehmen werden.
Die Politische Ökonomie der Ungleichheit
Das Promotionskolleg „Die Politische Ökonomie der Ungleichheit“ untersucht Ausmaß, Ursachen und Folgen steigender sozioökonomischer Ungleichheit. Materielle Unterschiede stehen dabei im Mittelpunkt, werden aber stets in Zusammenhang zu politischen, sozialen und ökologischen Aspekten gesetzt. Die Forschungspraxis ist von einem interdisziplinären und anwendungsorientierten sozioökonomischen Ansatz geprägt. Zur Übersicht aller Blogbeiträge der Mitglieder aus dem Promotionskolleg
Dieser Beitrag wurde zunächst auf makronom.de veröffentlicht.
Kurz zusammengefasst
Steuervermeidungspraktiken multinationaler Unternehmen belasten die öffentlichen Haushalte weltweit mit jährlich mehreren Hundert Milliarden Euro. Seit 2012 wird, zunächst im Rahmen der G20, eine Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung vorangetrieben. Obwohl es von zivilgesellschaftlicher Seite weiterhin Kritik gibt, gilt der Prozess immerhin als erfolgreiche Überwindung eines Einigungsproblems. Denn zwar gab es zunächst Einigkeit, dass die Aushöhlung der Bemessungsgrundlage multinationaler Konzerne durch die Gewinnverlagerung von Hoch- in Niedrigsteuerländer einzudämmen sei. Doch über das Wie herrschte lange Uneinigkeit. Zentrale Konfliktpunkte mit den USA waren die Abgrenzung digitaler Geschäftsmodelle von anderen Wirtschaftsbereichen (insbesondere mit einigen EU-Mitgliedsstaaten) und die Zuteilung der Besteuerungsrechte zwischen Herkunfts- und Marktstaaten (insbesondere mit Regierungen des Globalen Südens). Mit einem Zwei-Säulen-Modell konnten Interessen in beiden Konfliktbereichen miteinander ausgehandelt werden. Insbesondere ein technisches Detail in der zweiten Säule könnte die Erfolgschancen der Implementierung erhöhen: Jede Regierung hat den Anreiz zur Einhaltung des effektiven Mindeststeuersatzes von 15%, um nicht das Besteuerungsrecht ausländischen Regierungen zu überlassen.