Ungleiche Teilnahmequoten an Befragungen oder falsche Angaben können Daten zum Wahlverhalten verzerren – und so politische Karrieren und Entscheidungen beeinflussen. Daher ist es nötig, die Defizite von Wahlbefragungen mit ergänzenden Methoden zu beheben.
ach jeder Wahl ist es das gleiche Spiel: Politik-Expert:innen analysieren, Spitzenkandidat:innen erklären und Journalist:innen berichten. Wähler:innenwanderung, geglückte Themensetzung und Koalitionsoptionen werden besprochen. Für manche entscheidet sich an den Tagen nach der Wahl, wie es mit der Karriere weitergeht, für andere, ob sie sich bald auf schnellere Abschiebungen oder mehr Luftverschmutzung einrichten müssen. Für eine gelungene inhaltlichen Einordnung der Wahlergebnisse und für eine fundierte Diskussion braucht es „gute“ Daten über die Entwicklung der Wahlbeteiligung, zu den Zustimmungswerten der aktuellen Politik oder über die Bewertung der Kandidat:innen durch Wähler:innen.
„Keine Angabe“ als elementarer Bestandteil von Befragungen
Bei der Erhebung dieser Daten, also der Befragung selbst, sollte den Befragten klar sein, aus welchen Antwortoptionen sie wählen können. Alleine das Lesen der verschiedenen Optionen könnte Befragte beeinflussen, indem sie sich beispielsweise wieder an bestimmte Dinge erinnern (Diekmann, 2007, S. 446 ff.). Das gilt besonders für quantitative Erhebungen, in denen den Befragten geschlossene Fragen gestellt werden, z.B.: „Welcher Partei haben Sie bei der Bundestagswahl 2017 Ihre Zweitstimme gegeben?“. In einem solchen Fall sollte den Befragten dann eine Liste mit allen Parteien, die bei der Bundestagswahl 2017 angetreten sind, als Antwortoption gegeben werden. Und als „Auffangbecken“ für alle nicht antizipierten Antwortmöglichkeiten kann es sinnvoll sein, auch denen, die keine Antwort geben wollen oder können (z. B. weil sie sich nicht erinnern), eine „Nicht-Antwort“ zu ermöglichen.
Die Autorin
Clara Weißenfels ist Doktorandin im Promotionskolleg „Politische Ökonomie der Ungleichheit“. Ihre Forschungsinteressen: Politische Partizipation und Machtverhältnisse.
Systematisches Entziehen oder einfach nur Pech?
Ein angemessener Umgang mit methodischen Herausforderungen beim Erfassen von politischem Verhalten oder Einstellungen steht seit Jahrzehnten im Fokus vieler engagierter Wissenschaftler:innen. Viele Arbeiten werten Survey-Daten aus, bei denen Befragte entweder online, telefonisch oder persönlich Fragen beantworten. Das Interesse liegt dann vor allem an der Erfassung möglichst vieler Personen, um quantitative Methoden anwenden zu können.
Dabei haben sich besonders zwei Probleme herauskristallisiert. Erstens nehmen Menschen, die sich politisch beteiligen, deutlich häufiger an Befragungen teil als diejenigen, die politisch weniger integriert sind („oversampling“). Zweitens entspricht das tatsächliche Verhalten nicht immer dem, was die Befragten als Antwort angeben. Häufig passiert das aufgrund einer wahrgenommenen sozialen Erwartungshaltung (Philipps und Clancy, 1972), nach der es anerkannt ist zu wählen und sozial sanktioniert wird, wenn mensch ehrlich zugibt, nicht gewählt zu haben. Dann tendieren Befragte dazu anzugeben, gewählt zu haben, obwohl das nicht stimmt, was die Ergebnisse verzerrt („overreporting“ von Wahlbeteiligung). Beide Probleme treten nachgewiesenermaßen in diversen sozialen und nationalen Kontexten auf (Selb und Munzert 2013; Sciarini und Goldberg 2016) und können mit Maßnahmen wie statistischer Gewichtung und dem Vergleich von angegebenem und tatsächlichem Verhalten zumindest eingedämmt werden (jedenfalls in Ländern mit zugänglichen Wahlregistern).
Serie Ungleichheit und Macht
Die wachsende gesellschaftliche Ungleichheit ist eines der bedeutendsten Probleme unserer Zeit. Zugleich steigt das wissenschaftliche Interesse und liefert neue Erkenntnisse mit Blick auf die drängendsten Fragen und Antworten zu verschiedenen Dimensionen der Ungleichheit und ihren zugrundeliegenden Machstrukturen.
Für die Debattenreihe „Ungleichheit und Macht“ haben Doktorand:innen aus dem Promotionskolleg „Politische Ökonomie der Ungleichheit“ am Institut für Sozioökonomie der Universität Duisburg-Essen diese neuen Erkenntnisse aufgeschrieben. In den Beiträgen stellen die Promovierenden, die von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert werden, Teilergebnisse ihrer Forschung vor und diskutieren verbundene gesellschaftliche Herausforderungen sowie politische Handlungsoptionen. Mit dem Fokus auf Ungleichheitsdimensionen und zugrunde liegenden Machtverhältnissen reicht der thematische Bogen von Armut und Besteuerung bis zu Arbeitsmarkt‑, Gleichstellungs- oder Klimapolitik. Durch die thematischen Breite und Vielfalt der eingesetzten Methoden stoßen die Autor:innen eine weiterführende gesellschaftliche Debatte darüber an, wie der steigenden Ungleichheit begegnet werden kann.
Die Reihe erscheint in regelmäßigen Abständen zwischen April und Juni 2023 im Makronom. Hier im ifsoblog dokumentieren wir die Serie anschließend ebenfalls.
Aber auch wenn Befragte an der Erhebung teilnehmen, aber ihre Antworten auf bestimmte Fragen verweigern („Item Non-Response“), kann eine problematische Schieflage in den Daten entstehen. Denn dann ist das Ziel, von allen Befragten vergleichbare Angaben aufzunehmen und sie am Ende auszuwerten, verfehlt. Alvarez und Li (2022) untersuchen, ob es bei Online-Befragungen die Möglichkeit gibt, Befragte, die aus Langeweile oder Unaufmerksamkeit ihre Antworten verweigern, zu identifizieren. Und Berinsky (2017) argumentiert für eine angemessene Frageformulierung, um Befragte nicht zu überfordern. Er spricht eine für viele Wissenschaftler:innen und/oder Politikinteressierte überraschende Beobachtung aus:
„Die meisten Menschen schenken der Politik die meiste Zeit keine Aufmerksamkeit“ (S. 317, eigene Übersetzung).
Wer macht „keine Angabe“?
Bei Längsschnittstudien wie dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), das seit 1984 jährlich ausführliche Befragungen mit Haushalten in ganz Deutschland führt, können Teilnehmer:innen bei sämtlichen Fragen „keine Angabe“ machen (Datensatz: SOEP-Core, v37, EU Edition). Im Folgenden werfen wir einen Blick auf die Zusammensetzung derjenigen, die bei Fragen zur eigenen Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 2017 im SOEP „keine Angabe“ gemacht haben. Die Befragten haben diverse Antwortmöglichkeiten dazu, wie sie ihre Stimmen auf die angetretenen Parteien verteilt haben. Im Jahr 2017 haben nur 7,7% der Befragten keine Antwort gegeben, deshalb lassen sich statistische Zusammenhänge rechnerisch schwer ableiten. Die Maßzahl Cramér’s V zeigte bei der Berechnung keine statistische Signifikanz der beobachteten Unregelmäßigkeiten. Allerdings eröffnet der Blick in die Zusammensetzung der Gruppe dennoch interessante Erkenntnisse.
Für beide Jahre konnten die Befragten angeben, ob sie (wenn sie wahlberechtigt waren) nicht gewählt haben, welche Partei oder Parteien sie gewählt haben oder ob sie „keine Angabe“ machen möchten. Ungültige Stimmabgaben oder ungültige Antworten innerhalb der Befragung wurden für diese Auswertung ausgeschlossen.
Bei der Bundestagswahl 2017 bestand die Gruppe derer, die „keine Angabe“ machten, aus 1.859 Personen, während 19.853 Befragte ihre Wahlentscheidung angaben. Das heißt im Gesamtverhältnis: 92,3% haben geantwortet, 7,7% nicht. Mich hat besonders interessiert, wie sich die Zahlen unterscheiden, wenn wir auf Geschlecht, Bildungsgrad, Interesse an Politik, Armutsbetroffenheit und Einkommen schauen. Die folgende Darstellung berücksichtigt die Größe der Gruppen, also ob beispielsweise mehr Männer oder Frauen insgesamt befragt wurden, da sie jeweils anteilig das Antwortverhalten darstellt.
Frauen (das Geschlecht wird im SOEP binär gemessen) machen häufiger keine Angabe (8,3%) als Männer (7,1%). Besonders oft verweigern Befragte mit Realschulabschluss, hier gewertet als „mittlerer Bildungsgrad“, die Angabe. Interessanterweise geben Befragte mit Hauptschulabschluss oder ohne Abschluss ihre Wahlteilname genauso oft preis wie die Gruppe der hoch gebildeten Befragten.
6,9% derjenigen, die bei der Befragung unter der Armutsgrenze lebten, haben die Angabe verweigert. Bei denen, die nicht arm waren, lag der Anteil bei 7,8%. Dieses Ergebnis zeigt, dass Armutsbetroffene in dieser Darstellung häufiger Angaben machen als diejenigen mit einem Einkommen (haushaltsgewichtet) oberhalb der Armutsgrenze.
Je stärker das politische Interesse ausgeprägt ist, desto höher ist auch der Anteil der Antwortenden. Während „kein“ oder „nicht viel“ Interesse zu jeweils 9,4% bzw. 9,1% verweigerten Antworten führt, sind es bei starkem Interesse nur noch 6,1% und bei sehr starkem Interesse nur 4,8% – dem niedrigsten hier beobachteten Anteil an Antwort-Verweigerungen. Politisches Interesse scheint also eine gewichtige Rolle bei der Entscheidung zu spielen, ob Befragte zu ihrer Wahlentscheidung antworten.
Für die Darstellung der Einkommensverteilung aller Befragten und aufgeteilt nach gegebenen oder verweigerten Angaben habe ich zuerst die Einkommens-Dezile berechnet. Dadurch wird die Gruppe der Befragten in zehn gleich große Gruppen aufgeteilt. Die unteren 10% sind diejenigen mit dem niedrigsten Einkommen, das zweite Dezil sind die Befragten die zwischen 10 und 20% der Einkommensverteilung zur Verfügung haben usw. Dadurch sind die Angaben robuster gegen Ausreißer durch besonders niedrige oder hohe Einkommen. Die Grafik nächste zeigt an, wie die Einkommen prozentual in der jeweiligen Gruppe verteilt sind.
Die Grafik zeigt die „Kerndichteschätzer“, also die Wahrscheinlichkeit, dass ein:e Befragte:r das dargestellte Einkommen zur Verfügung hat, wenn sie:er zur jeweiligen Gruppe gehört. Personen, die keine Angabe gegeben haben (gelbe Linie), haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, im unteren Einkommensbereich von bis zu 1.500 Euro pro Monat zu liegen. Der Median liegt für die gesamte Gruppe der Befragten bei 1.666,67 €, für diejenigen, die Angaben gegeben haben bei 1.736,67 € und für diejenigen, die die Angaben verweigern bei 1.700 €.
Politisch Interessierte haben die geringste Ausfall-Quote
Wenn wir das Wahlverhalten mit Daten aus dem SOEP auswerten, erhalten wir also besonders Antworten von den Befragten, die sich mehr für Politik interessieren, was uns bei der Erhebung von Daten zu denken geben sollte. Dieser Beitrag soll keinesfalls die Qualität des SOEP infrage stellen, dessen Mitarbeiter:innen durch ständige Qualitätskontrollen und aufwändige Gewichtungsverfahren eine wertvolle Datenquellen für Deutschland sicherstellen. Vielmehr geht es darum zu hinterfragen, wessen Meinung wir eigentlich mit Fragebögen erfassen und wessen Meinung „hinten runter“ fällt.
Das eigene politische Verhalten ist eng mit Emotionen und erlernten Verhaltensweisen verknüpft (z.B. Marx 2019). Warum genau verweigern also Menschen einen Einblick in ihr Wahlverhalten? Ist es schlichtes Desinteresse an der Frage, fehlende Erinnerung, Misstrauen gegenüber dem:der Interviewer:in? Oder gibt es noch ganz andere Gründe?
In persönlichen Interviews oder Fokusgruppen könnten diese Fragen gezielt beleuchtet werden, um eine Verbesserung der Datenerhebung insgesamt zu erreichen. Der Reiz an der umfangreichen und aufwändigen Datenerhebung des SOEP liegt ja besonders in der Vergleichbarkeit der Daten über diverse Kontexte. Voraussetzung dafür ist eine möglichst gleichmäßige Erfassung der Grundgesamtheit, also der Gruppe, über die Forscher:innen eine Aussage treffen wollen. Das ist beim SOEP (und anderen großen Panel-Datensätzen) eben niemand geringeres als die Gesamtbevölkerung Deutschlands. Wenn dann aber bestimmte Gruppen aus unbekannten Gründen die gestellten Fragen gar nicht erst beantworten, sollten wir uns diesem Phänomen der „Nicht-Beantwortung“ bestimmter Fragen dringend genauer annehmen.
Die Politische Ökonomie der Ungleichheit
Das Promotionskolleg „Die Politische Ökonomie der Ungleichheit“ untersucht Ausmaß, Ursachen und Folgen steigender sozioökonomischer Ungleichheit. Materielle Unterschiede stehen dabei im Mittelpunkt, werden aber stets in Zusammenhang zu politischen, sozialen und ökologischen Aspekten gesetzt. Die Forschungspraxis ist von einem interdisziplinären und anwendungsorientierten sozioökonomischen Ansatz geprägt. Zur Übersicht aller Blogbeiträge der Mitglieder aus dem Promotionskolleg
Dieser Beitrag wurde zunächst auf makronom.de veröffentlicht.
Kurz zusammengefasst
Bei Umfragedaten zum Wahlverhalten kann es verschiedene methodische Probleme geben, wie z. B. die Übererfassung von politisch interessierten Befragten, falsche Angaben der Befragten oder „Item-Non-Response“. Die Analyse solcher verweigerter Antowrten in deutschen Paneldaten bestätigt, dass Befragte mit geringerem politischem Interesse und geringerem Einkommen eher keine Angaben dazu machen, wen sie bei der letzten Bundestagswahl gewählt haben. Dies deutet darauf hin, dass die Informationen der wohlhabenderen und politisch interessierten Bürger für die Forschung und die öffentliche Diskussion reichhaltiger sind, was die Debatte möglicherweise verzerrt. Dies trägt zur Diskussion über die Angemessenheit von Umfragedaten für die Erforschung politischer Präferenzen bei. Eine mögliche Verbesserung wäre eine sorgfältigere Formulierung der Fragen, zudem könnten ergänzende Methoden wie persönliche Interviews oder Fokusgruppen erforderlich sein, um diese Einschränkungen zu umgehen.