Im Stra­ßen­ver­kehr domi­niert trotz Kli­ma­krise die Auto­mo­bi­li­tät. Die blasse Bilanz tech­no­lo­gi­scher Lösun­gen sowie die enge Ver­zah­nung mit sozia­ler Ungleich­heit machen einen ver­kehrs­po­li­ti­schen Fokus auf Bedürf­nisse erforderlich.

D

er Ver­kehrs­sek­tor ist das enfant ter­ri­ble der Dekar­bo­ni­sie­rungs­be­mü­hun­gen. In der EU ist der Trans­port­sek­tor der ein­zige Sek­tor, in dem Treib­haus­gas (THG)-Emissionen nicht wie erfor­der­lich deut­lich sin­ken (IPCC, 2014; Creut­zig et al., 2015), son­dern seit 1990 fort­wäh­rend anstei­gen (Euro­stat, 2021). Mar­gi­nale Effi­zi­enz­ver­bes­se­run­gen des Ver­bren­nungs­mo­tors wur­den über­kom­pen­siert durch u. a. wei­tere Weg­stre­cken, sin­kende Beset­zungs­grade und grö­ßere, schwere Fahr­zeug­mo­delle (Scha­fer et al., 2009; IEA, 2019).

Ver­kehrs­po­li­tik scheint in einer Patt­si­tua­tion gefan­gen, in der nur eines der Ziele öko­lo­gi­sche Nach­hal­tig­keit oder soziale Gerech­tig­keit erreicht wer­den kann. Gibt es einen Aus­weg aus dem Dilemma?

Dar­über hin­aus ist die öko­lo­gi­sche (Nicht-)Nachhaltigkeit des Sek­tors eng mit sozia­ler Ungleich­heit ver­knüpft. Trans­portemis­sio­nen sind sowohl glo­bal als auch inner­ge­sell­schaft­lich betrach­tet äußerst ungleich ver­teilt, unglei­cher noch als die Emis­sio­nen ande­rer Sek­to­ren (Büchs und Schnepf, 2013; Gore, 2020). Wäh­rend in vie­len Län­dern des Glo­ba­len Nor­dens am obe­ren Ende der Ein­kom­mens­ver­tei­lung viel moto­ri­siert gereist wird, kön­nen sich Men­schen mit gerin­gem Ein­kom­men bei­spiels­weise den Zugang zu jeg­li­chen For­men der Mobi­li­tät nicht leis­ten oder sind so schlecht ans (öffent­li­che) Ver­kehrs­netz ange­bun­den, dass sie eigent­lich not­wen­dige Rei­sen unter­las­sen müs­sen (Lucas et al., 2016).

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In der Working-Paper-Reihe des ifso wer­den vor­läu­fige For­schungs­er­geb­nisse zur Dis­kus­sion gestellt, die aus der For­schung am und um das ifso hervorgehen.

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Soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit im Straßenverkehr – unvereinbare Ziele?

Der Zugang zu einem Auto mar­kiert zuneh­mend den Schei­de­punkt dafür, ob Men­schen ihre Grund­be­dürf­nisse decken kön­nen oder nicht. Vor allem auf dem Land und in den Vor­städ­ten sind Akti­vi­tä­ten oft „auto­ab­hän­gig“. Wird vor die­sem Hin­ter­grund Auto­nut­zung iso­liert ver­teu­ert oder erschwert, droht vie­len Men­schen, ins­be­son­dere mit nied­ri­gem Ein­kom­men, der soziale Aus­schluss und die Unter­ver­sor­gung mit Grund­gü­tern. Wird Auto­mo­bi­li­tät jedoch nicht zeit­nah redu­ziert, ver­schär­fen sich die mas­si­ven nega­tive Effekte der Kli­ma­krise, die heute schon Men­schen im Glo­ba­len Süden sowie zukünf­tige Gene­ra­tio­nen aller Län­der tref­fen. Ver­kehrs­po­li­tik scheint damit in einer Patt­si­tua­tion gefan­gen, in der nur eines der Ziele öko­lo­gi­sche Nach­hal­tig­keit oder soziale Gerech­tig­keit auf Kos­ten des jeweils ande­ren erreicht wer­den kann. Gibt es Aus­wege aus die­sem Dilemma?

Die Bewe­gung der Gilets jau­nes in Frank­reich demons­triert ein­drucks­voll die soziale Spreng­kraft, wel­che die Erwar­tung einer Ein­schrän­kung der Auto­mo­bi­li­tät ent­fal­ten kann. Oli­vier Ortelpa from Paris, France, CC BY 2.0, via Wiki­me­dia Commons.

In der neo­klas­si­schen Öko­no­mik, die mit dem Prä­fe­renz­er­fül­lungs­an­satz ope­riert und folg­lich die kos­ten­ef­fi­zi­ente Emis­si­ons­re­duk­tion als ein­zige nor­ma­tive Vor­gabe betrach­tet (vgl. Frick und Huwe, 2020), ist bereits der Ziel­kon­flikt unsicht­bar. Für eine sozial-öko­lo­gi­sche Ver­kehrs­wende frucht­bar gemacht wer­den kann statt­des­sen der alter­na­tive Ansatz mensch­li­cher Bedürf­nisse. Die­ser fußt auf einem grund­le­gend ande­ren Ver­ständ­nis von Wohl­erge­hen. Wäh­rend der Prä­fe­renz­er­fül­lungs­an­satz Wohl­erge­hen als das Opti­mum einer sub­jek­ti­ven Prä­fe­renz­ord­nung ver­steht, kon­zi­piert die Theo­rie mensch­li­cher Bedürf­nisse Wohl­erge­hen als die Befä­hi­gung zur Teil­habe in der Gesell­schaft durch die Erfül­lung objek­ti­ver Bedürf­nisse (vgl. Lamb und Stein­ber­ger, 2017; Brand-Cor­rea und Stein­ber­ger, 2017).

Durch einen Fokus auf Bedürfnisse wird sozial-ökologische Verkehrspolitik möglich

Wie diese wohl­fahrts­theo­re­ti­sche (Neu-)Ausrichtung für die Ver­kehrs­wende kon­zep­tua­li­siert wer­den kann, zei­gen die Papiere von Giu­lio Mat­tioli (2016) und Lina Brand-Cor­rea et al. (2020), deren Syn­these hier vor­ge­stellt wer­den soll. Ein bedürf­nis­ori­en­tier­ter Ansatz legt frei, dass Ver­kehrs­po­li­tik zur Ver­söh­nung sozia­ler und öko­lo­gi­scher Nach­hal­tig­keit (i) Auto­mo­bi­li­tät, die nicht an die Erfül­lung von Bedürf­nis­sen gekop­pelt ist, redu­zie­ren und (ii) ein Sys­tem, das die emis­si­ons­arme Erfül­lung von Grund­be­dürf­nis­sen ermög­licht, ent­wi­ckeln muss.

Zur Her­lei­tung die­ser Schluss­fol­ge­run­gen stüt­zen sich Theo­rien mensch­li­cher Bedürf­nisse auf zwei zen­trale Unterscheidungen:

    1. die Unter­schei­dung zwi­schen Bedürf­nis­sen (needs) und Wün­schen (wants) sowie
    2. die Unter­schei­dung zwi­schen Bedürf­nis­sen (needs) und den Mit­teln zur Bedürf­nis­be­frie­di­gung, auch Bedürf­nis­de­cker (need satis­fier) genannt.

Nicht jede Fahrt mit dem Auto dient einem Bedürfnis

Die Abgren­zung zwi­schen Wün­schen und Bedürf­nis­sen ist defi­niert über den Fall des Man­gels: Anders als bei Wün­schen folgt bei Nicht-Erfül­lung von Bedürf­nis­sen objek­ti­ver Scha­den für Wohl­erge­hen oder Ver­wirk­li­chungs­chan­cen. Auf­grund des­sen sollte der Theo­rie zufolge die Erfül­lung von Bedürf­nis­sen vor­ran­gig gegen­über der Erfül­lung von Wün­schen sein. Wäh­rend Wün­sche indi­vi­du­ell ver­schie­den aus­ge­prägt sein kön­nen, haben Bedürf­nisse uni­ver­sel­len Cha­rak­ter, sie gel­ten unab­hän­gig von indi­vi­du­el­ler Prä­fe­renz oder loka­lem Kontext.

Auto­mo­bi­li­tät, die von exis­ten­ti­el­ler Bedürf­nis­be­frie­di­gung ent­kop­pelt ist, kann redu­ziert wer­den, ohne soziale Inklu­sion und Wohl­erge­hen zu gefährden.

Wich­tig ist auch, dass Bedürf­nisse anders als poten­ti­ell unbe­grenzte Wün­sche gesät­tigt wer­den kön­nen. Im Prä­fe­renz­er­fül­lungs­an­satz ver­schmel­zen statt­des­sen Wün­sche und Bedürf­nisse zu indi­vi­du­el­len „Prä­fe­ren­zen“, die nor­ma­tiv als gleich­wer­tige Ziele betrach­tet wer­den und für deren Erfül­lung ein „Mehr“ immer bes­ser ist. Emis­si­ons­in­ten­sive Wün­sche und dar­aus erwach­sene Gewohn­hei­ten wer­den auf diese Weise natu­ra­li­siert. Mit der wohl­fahrts­theo­re­ti­schen Grund­lage der Bedürf­nis- statt der Prä­fe­renz­er­fül­lung wird sicht­bar, dass der Teil der Auto­mo­bi­li­tät, der von exis­ten­ti­el­ler Bedürf­nis­be­frie­di­gung ent­kop­pelt ist, redu­ziert wer­den kann, ohne soziale Inklu­sion und Wohl­erge­hen zu gefähr­den – und auf Grund des nor­ma­ti­ven Vor­rangs von Bedürf­nis­sen ange­sichts des knap­pen ver­blei­ben­den THG-Bud­gets auch zuerst redu­ziert wer­den muss. Diese Reduk­tion bil­det den ers­ten Bau­stein sozial-öko­lo­gi­scher Verkehrspolitik.

Die Autorin

Vera Huwe ist Sti­pen­dia­tin im Pro­mo­ti­ons­kol­leg „Poli­ti­sche Öko­no­mie der Ungleich­heit“. Ihre Schwer­punkte: sozial-öko­lo­gi­sche Ver­kehrs­po­li­tik, inter­sek­tio­nale Per­spek­ti­ven auf Ungleich­heit, Phi­lo­so­phie der VWL.

Um Bedürfnisse zu erfüllen ist Automobilität ist nur eines der möglichen Mittel

Zwei­tens wer­den Bedürf­nisse unter­schie­den von den blo­ßen Mit­teln, die ein­ge­setzt wer­den, um Bedürf­nisse zu befrie­di­gen. Diese Bedürf­nis­de­cker kön­nen ana­ly­tisch in meh­rere, hier­ar­chisch inein­an­der­grei­fende Ebe­nen (E) abneh­men­den Abs­trak­ti­ons­grads unter­teilt wer­den. Die Ebe­nen las­sen sich anhand des Bei­spiels Lebens­un­ter­halt illus­trie­ren. Lebens­un­ter­halt erfor­dert neben Sorge- auch Lohn­ar­beit. Im aktu­ell bestehen­den sozio-tech­ni­schen Sys­tem (E1) lie­gen Woh­nen und Lohn­ar­beit räum­lich meist deut­lich ent­fernt von­ein­an­der und Auto­mo­bi­li­tät ist gegen­über dem öffent­li­chen Ver­kehr infra­struk­tu­rell und insti­tu­tio­nell begüns­tigt. In die­sem Sys­tem ist Lohn­ar­beit eine auto­ab­hän­gige Prak­tik (E2), stellt doch das Auto (E4) fle­xi­bler und schnell(er) den Ser­vice Mobi­li­tät (E3) bereit, der für den Zugang zur Lohn­ar­beit erfor­der­lich ist. Dabei wird ersicht­lich, dass Auto­mo­bi­li­tät kein Bedürf­nis an sich ist, son­dern das letzte Glied in der Kette aktu­ell eta­blier­ter Bedürf­nis­de­cker. Tabelle 1 (nach Brand-Cor­rea et al., 2020, S. 313) fasst die vier Ebe­nen der Bedürf­nis­de­cker zusammen.

Ebene der Bedürfnisdecker Aus­prä­gung im Kon­text Straßenverkehr
E1 – Sys­teme der Bereit­stel­lung („sys­tem of provisioning“) auto­zen­trierte Infra­struk­tur, auto­ab­hän­gige Land­nut­zung, unter­stüt­zende Macht­ver­hält­nisse und Institutionen
E2 – Aktivitäten Auto­ab­hän­gige Prak­ti­ken, „Kul­tur“ des Autos
E3 – Services Mobi­li­tät
E4 – Pro­dukt bzw. Technologie Auto
Tabelle 1: Vier Ebe­nen der Bedürf­nis­de­cker (nach Brand-Cor­rea et al, 2020, S. 313.

Problem: Aktuelle Mittel zur Bedürfnisbefriedigung sind zu THG-intensiv

Auto­mo­bi­li­tät ist ein beson­ders ener­gie- und somit THG-inten­si­ver Bedürf­nis­de­cker. Wür­den glo­bal gese­hen alle Men­schen die­sen Bedürf­nis­de­cker ver­wen­den, wären im Aggre­gat pla­ne­tare Gren­zen schnell über­schrit­ten. Doch im Gegen­satz zur Uni­ver­sa­li­tät von Bedürf­nis­sen sind die Mit­tel der Bedürf­nis­be­frie­di­gung varia­bel. Über Zeit und Raum hin­weg wur­den und wer­den ganz unter­schied­li­che Mit­tel zur Erfül­lung der immer glei­chen Bedürf­nisse eingesetzt.

Ein­ge­schrie­ben in Infra­struk­tur und soziale Prak­ti­ken führ­ten Lock-in-Effekte all­mäh­lich zur Ver­schmel­zung von Auto­mo­bi­li­tät und Bedürfnisbefriedigung.

Das Auto gewann erst im Laufe des letz­ten Jahr­hun­derts an Bedeu­tung für die Bedürf­nis­be­frie­di­gung. In einem Pro­zess der „Eska­la­tion“ wurde die Auto­nut­zung in den Gesell­schaf­ten des Glo­ba­len Nor­dens vom Luxus­gut zu einer vie­ler­orts schwer zu ändern­der Not­wen­dig­keit. Die zuneh­mende Moto­ri­sie­rung führte im Aggre­gat dazu, dass Infra­struk­tur zuneh­mend auto­zen­triert gestal­tet, also das Stra­ßen­netz aus- und der öffent­li­che Ver­kehr zurück­ge­baut wurde. Ebenso zer­sie­del­ten Städteplaner*innen den Raum in mono­funk­tio­nale Ein­hei­ten Woh­nen, Lohn­ar­bei­ten und Ver­sor­gen, sodass weite Wege all­täg­lich erfor­der­lich wur­den. Im Zusam­men­spiel wurde indi­vi­du­elle Abhän­gig­keit vom Auto geschaf­fen und all­mäh­lich ver­stärkt. Ein­ge­schrie­ben in Infra­struk­tur und soziale Prak­ti­ken führ­ten Lock-in-Effekte all­mäh­lich zur Ver­schmel­zung von Auto­mo­bi­li­tät und Bedürfnisbefriedigung.

Im Nichts endende Rad­wege sind kein sel­te­nes Phä­no­men in deut­schen Groß­städ­ten – und ein Zei­chen dafür, wie auto­zen­triert urbane Infra­struk­tur nach wie vor ist.

Eine sozial-ökologische Verkehrspolitik braucht die Neuverteilung von Raum und Macht

Diese dyna­mi­sche, sys­te­mi­sche Per­spek­tive legt jedoch auch den zwei­ten wich­ti­gen Ansatz­punkt für eine sozial-öko­lo­gi­sche Ver­kehrs­po­li­tik frei: die Ent­kopp­lung der Bedürf­nisse von der Auto­mo­bi­li­tät. Auf Grund der Varia­bi­li­tät der Bedürf­nis­de­cker kön­nen diese gezielt so ver­än­dert wer­den, dass sie die zugrun­de­lie­gen­den Bedürf­nisse genauso gut erfül­len, dafür aber nur die geringst­mög­li­che Emis­si­ons­menge ver­ur­sa­chen. Ein Auto ist dann nicht mehr zwin­gend erfor­der­lich, wäh­rend Wohl­erge­hen wei­ter­hin sicher­ge­stellt (oder bei vor­he­ri­gem Man­gel gar erhöht) wird. Um diese Ent­kopp­lung von Bedürf­nis­sen und Auto­mo­bi­li­tät zu erwir­ken, kann prin­zi­pi­ell auf jeder der vier Ebe­nen ange­setzt wer­den. Je höher die Ebene der Inter­ven­tion, desto grö­ßer der Hebel zur Ent­kopp­lung. Inter­ven­tio­nen, die das Pro­dukt Auto selbst ver­bes­sern oder den Ser­vice der Mobi­li­tät ver­än­dern, bei­spiels­weise durch eine City-Maut ver­teu­ern oder durch Car Sha­ring die Aus­las­tung opti­mie­ren, ver­fü­gen ins­ge­samt nur über gerin­ges Poten­tial zur Ent­kopp­lung. Dage­gen ver­fü­gen die Umver­tei­lung von Raum zuguns­ten des nicht-moto­ri­sier­ten Ver­kehrs (vgl. auch Creut­zig et al., 2020), stark aus­ge­baute und gut auf­ein­an­der abge­stimmte öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel sowie die raum­pla­ne­ri­sche Wie­der­ein­bet­tung von Orten der Arbeit und Ver­sor­gung über die größ­ten Hebel.1

Eine bedürf­nis­ori­en­tierte Ver­kehrs­po­li­tik führt dazu, dass alle ein bedürf­nis­er­füll­tes Leben füh­ren kön­nen, ohne kol­lek­tiv pla­ne­tare Gren­zen zu überschreiten.

Wird das Sys­tem der Bedürf­nis­de­cker ver­än­dert, kön­nen mög­lichst emis­si­ons­arme Mit­tel der Bedürf­nis­be­frie­di­gung neu ima­gi­niert und erprobt wer­den. Dar­über hin­aus ist für das Gelin­gen der Ent­kopp­lung die Infra­ge­stel­lung tie­fer­lie­gen­der, Auto­ab­hän­gig­keit fort­schrei­ben­der Macht­struk­tu­ren zen­tral, vor­nehm­lich das Auf­lö­sen der Vor­macht­stel­lung der Auto­in­dus­trie durch demo­kra­ti­sche Pro­zesse (zur Poli­ti­schen Öko­no­mie der Auto­ab­hän­gig­keit vgl. Mat­tioli et al., 2020). So ver­stan­dene Ver­kehrs­po­li­tik weist gegen­he­ge­mo­nia­les, demo­kra­tie­ver­stär­ken­des Poten­tial auf (Mouffe, 2007). Ver­kehrs­po­li­tik ist also weni­ger die Elek­tri­fi­zie­rung und Auto­ma­ti­sie­rung des Auto­ver­kehrs, son­dern viel­mehr die Neu­ver­tei­lung von Raum und Macht – und nicht zuletzt eine Frage von Vorstellungskraft.
In der Summe führt eine bedürf­nis­ori­en­tierte Ver­kehrs­po­li­tik dazu, dass alle ein bedürf­nis­er­füll­tes Leben füh­ren kön­nen, ohne kol­lek­tiv pla­ne­tare Gren­zen not­wen­di­ger­weise zu über­schrei­ten. Der Ziel­kon­flikt zwi­schen sozia­ler Gerech­tig­keit und öko­lo­gi­scher Nach­hal­tig­keit löst sich auf.

Aus Sorgearbeit resultierende Mobilitätsanforderungen bei der Transformation mitdenken

Doch sind damit noch nicht alle Pro­bleme gelöst. Aus femi­nis­ti­scher Per­spek­tive ist zu ergän­zen, dass bis­he­rige Bedürf­nis­de­cker nicht nur zu THG-inten­siv sind, son­dern auch nicht geschlech­ter­ge­recht ope­rie­ren. Noch immer leis­ten in vie­len zwei­ge­schlecht­li­chen Haus­hal­ten Frauen den Löwen­an­teil der unbe­zahl­ten Sor­ge­ar­beit und blei­ben öko­no­misch von Män­nern abhän­gig. Eine Ungleich­ver­tei­lung von Lohn- und Sor­ge­ar­beit wird auch für gleich­ge­schlecht­li­che Haus­halte beob­ach­tet (Schnee­baum, 2013, 2020). Durch Sor­ge­ar­beit indu­zierte Wege sind jedoch im Ver­gleich zu den Wegen zur Arbeits­stelle häu­fig kür­zer aber kom­ple­xer, erfol­gen sie doch zwi­schen Orten, die sich der­zeit mit öffent­li­chem Ver­kehr schwer­lich ver­bin­den las­sen (Michel­son, 1985; Schei­ner und Holz-Rau, 2017). Im Ergeb­nis sind Sor­ge­wege der­zeit nicht nur zeit­in­ten­siv, son­dern auch in beson­de­rem Maße auto­ab­hän­gig (Mat­tioli et al., 2016b). Sor­ge­wege wären also von einer Ver­än­de­rung des Bedürf­nis­de­ckers Auto­mo­bi­li­tät beson­ders betroffen.

Die Politische Ökonomie der Ungleichheit

Das Pro­mo­ti­ons­kol­leg „Die Poli­ti­sche Öko­no­mie der Ungleich­heit“ unter­sucht Aus­maß, Ursa­chen und Fol­gen stei­gen­der sozio­öko­no­mi­scher Ungleich­heit. Mate­ri­elle Unter­schiede ste­hen dabei im Mit­tel­punkt, wer­den aber stets in Zusam­men­hang zu poli­ti­schen, sozia­len und öko­lo­gi­schen Aspek­ten gesetzt. Die For­schungs­pra­xis ist von einem inter­dis­zi­pli­nä­ren und anwen­dungs­ori­en­tier­ten sozio­öko­no­mi­schen Ansatz geprägt. Zur Über­sicht aller Blog­bei­träge der Mit­glie­der aus dem Promotionskolleg

Diese Aus­gangs­lage ist jedoch keine Zwangs­läu­fig­keit, son­dern Ergeb­nis von Raum- und Infra­struk­tur­pla­nung, die auf die Bedarfe von (hypo­the­ti­schen) allein­ver­die­nen­den Män­nern zuge­schnit­ten wurde (u. a. Hay­den, 1982; Greed, 1994; Bee­bee­jaun, 2017; Mac­Gre­gor, 2019). Sor­gen­tä­tig­kei­ten lagen hin­ge­gen außer­halb des Blick­felds. Die infra­struk­tu­relle Erschwe­rung von Sor­ge­we­gen min­dert die Ver­ein­bar­keit von Sorge- und Lohn­ar­beit der Sor­ge­tä­ti­gen und trägt so dazu bei, dass sich Ungleich­heit und ste­reo­type Geschlech­ter­rol­len inner­halb des Haus­halts ver­fes­ti­gen. Vor die­sem Hin­ter­grund sind auch Maß­nah­men zur Ent­kopp­lung der Auto­mo­bi­li­tät von grund­le­gen­den Bedürf­nis­sen nicht auto­ma­tisch gen­der­ge­recht. Wer­den bei­spiels­weise auto­freie Zonen ein­ge­rich­tet, ohne zuvor Schu­len und Kitas in Wohn­vier­tel zu ver­la­gern, wird Sor­ge­ar­beit für Sor­ge­tä­tige zunächst erschwert (Greed, 2019; Bücker, 2020). Folg­lich muss sozial-öko­lo­gi­sche Ver­kehrs­po­li­tik, die auf die Ent­kopp­lung der Auto­mo­bi­li­tät von uni­ver­sel­ler Bedürf­nis­be­frie­di­gung abzielt, Sor­ge­ar­beit von vor­ne­her­ein mit­den­ken, um tat­säch­lich das Wohl­erge­hen aller zu erhöhen.

1 Den­noch kön­nen Inter­ven­tio­nen auf den nied­ri­ge­ren Ebe­nen, wenn geschickt aus­ge­stal­tet, zur Finan­zie­rung von Inter­ven­tio­nen auf den höhe­ren Ebe­nen her­an­ge­zo­gen wer­den. Wer­den bei­spiels­weise die Ein­nah­men aus einer umfas­sen­den, regio­nal dif­fe­ren­zier­ten Beprei­sung des moto­ri­sier­ten Stra­ßen­ver­kehrs reinves­tiert in einer­seits Pro-Kopf-Rück­erstat­tung und ande­rer­seits emis­si­ons­arme Infra­struk­tur im sub-urba­nen Raum, kön­nen nicht nur regres­sive Ver­tei­lungs­ef­fekte ver­mie­den, son­dern auch die Anbin­dung vul­nerabler Grup­pen ver­bes­sert wer­den (Creut­zig et al., 2020b).

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Kurz zusammengefasst

Im Stra­ßen­ver­kehr domi­niert trotz Kli­ma­krise die Auto­mo­bi­li­tät. Die blasse Bilanz tech­no­lo­gi­scher Lösun­gen sowie die enge Ver­zah­nung mit sozia­ler Ungleich­heit machen ein Umden­ken in der Ver­kehrs­po­li­tik erfor­der­lich. Durch einen Fokus auf Bedürf­nisse kann die Auto­ab­hän­gig­keit über­wun­den und Wohl­erge­hen sicher­ge­stellt wer­den. Dazu muss zwi­schen Bedürf­nis­sen (needs), Wün­schen (wants) sowie den Mit­teln zur Bedürf­nis­be­frie­di­gung, auch Bedürf­nis­de­cker (need satis­fier) genannt, unter­schie­den wer­den. Der Teil der Auto­mo­bi­li­tät, der von exis­ten­ti­el­ler Bedürf­nis­be­frie­di­gung ent­kop­pelt ist, kann redu­ziert wer­den, ohne soziale Inklu­sion und Wohl­erge­hen zu gefähr­den. Die Varia­bi­li­tät der Bedürf­nis­de­cker erlaubt es außer­dem, die zugrun­de­lie­gen­den Bedürf­nisse genauso gut zu erfül­len, dafür aber nur die geringst­mög­li­che Emis­si­ons­menge zu ver­ur­sa­chen. Eine sozial-öko­lo­gi­sche Ver­kehrs­po­li­tik sollte schließ­lich auch Sor­ge­ar­beit von vor­ne­her­ein mit­den­ken, um tat­säch­lich das Wohl­erge­hen aller zu erhöhen.