Über das langsame Lernen aus den Fehlern des Kapitalismus, die Abhängigkeit des Westens von einem extraktiven Imperialismus und die Chance einer heterodoxen Wirtschaftswissenschaft, einige Dinge richtig zu stellen.
In den letzten Wochen erhielt ich mehrere Anrufe von Journalist*innen, die mich fragten, ob als Folge der jüngsten Preiserhöhungen eine Lohn-Preis-Spirale zu erwarten sei und ob wir Zinserhöhungen brauchen, um die zunehmende Inflation zu bekämpfen. Diese Fragen sind etwas unangenehm, da sie immer noch einem mehr oder weniger neoliberalen wirtschaftspolitischen Drehbuch folgen, was darauf hindeutet, dass die Politik eines möglichst freien Marktes lebendig ist und dass wir viel zu wenig und zu langsam aus den Fehlern des Kapitalismus – wie Finanzkrisen, steigende Ungleichheit oder ökologische Zerstörung – lernen. Es ist auch schwer zu sagen, welche der beiden Fragen falscher ist: Eine Lohn-Preis-Spirale scheint eher unwahrscheinlich, da (a) die Inflation aus kurz- bis mittelfristigen Knappheiten bei Rohstoffen und Nahrungsmitteln sowie aus Fehlanpassungen in den globalen Wertschöpfungsketten resultiert und (b) die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer*innen auf einem langjährigen Tiefstand ist. Vor diesem Hintergrund erscheint mir die Annahme, dass die Arbeitskosten die entscheidende Größe zum Verständnis des Inflationsdrucks sind, etwas abwegig, denn knappe Arbeitskräfte sind in dieser Gleichung sicher nicht der Engpass. Vielmehr ist zu beobachten, dass die Gewinne in den sich verknappenden Sektoren – insbesondere im Energiesektor – in die Höhe schießen, was darauf hindeutet, dass mangelnder Wettbewerb zu steigenden Preisen beiträgt, weshalb man die Schuldigen auf der Seite des Kapitals und nicht der Arbeit ausmachen sollte.
Heterodox Economics Newsletter
Der Heterodox Economics Newsletter wird herausgegeben von Jakob Kapeller und erscheint im dreiwöchentlichen Rhythmus mit Neuigkeiten aus der wissenschaftlichen Community multiparadigmatischer ökonomischer Ansätze. Der Newsletter richtet sich an einen Kreis von mehr als 7.000 Empfänger*innen und zählt schon weit mehr als 250 Ausgaben.
In ähnlicher Weise überhitzen die entwickelten Volkswirtschaften nicht im herkömmlichen Sinne – sie haben vielmehr Mühe, ihre etablierten Versorgungssysteme, die auf (billige) Importe von Rohstoffen und Zwischenprodukten angewiesen sind, unter den derzeitigen Umständen am Laufen zu halten. Auch dies wird nicht durch eine Anhebung der Zinssätze gelöst werden, die die Arbeitslosigkeit erhöhen und vielleicht eine gewisse dämpfende Wirkung auf die Entwicklung der Immobilienpreise haben wird. Kurzfristig wird sich das jedoch kaum auf die relevanten Verbraucherpreise auswirken, da die tieferen Gründe für den derzeitigen Inflationsdruck in der Corona-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine zu suchen sind (siehe hier für eine ausführlichere Darstellung dieses Themas). Das Nachdenken über dieses Thema zeigt auch, dass Putin kein so schlechter Ökonom ist, wie manche vielleicht gehofft haben. Er versteht diese Abhängigkeiten westlicher Versorgungssysteme von einem extraktiven Imperialismus sehr wohl, denn er profitiert derzeit sowohl von steigenden Preisen für fossile Energie als auch von der strategischen Option, die Exporte nach Europa zu reduzieren, um geopolitische Macht auszuüben. Viele westliche Ökonom*innen, die so begeistert von unserer Fähigkeit waren, Russland von den internationalen Finanzmärkten abzuschneiden, haben das offenbar nicht vorausgesehen. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass sie gewohnt sind, in Begriffen der „Bruttosubstituierbarkeit“ zu denken, d. h. der Vorstellung, dass knappe Inputs schnell durch eine billigere Alternative ersetzt werden, was praktisch darauf hinausläuft, bestehende technologische Beschränkungen zu ignorieren. Für Modellierungszwecke ist dies gut, für das Verständnis tatsächlicher Produktionsprozesse jedoch weniger geeignet. Putins einfache Annahme, dass ein Großteil der Produktion mit einem oft schwer zu ersetzenden Primärinput beginnt, scheint hier mehr zuzutreffen, insbesondere kurz- oder mittelfristig.
Auch wenn es völlig unklar ist, wie sich unser globales Wirtschaftssystem von diesem Punkt aus weiterentwickeln wird, scheint mir klar zu sein, dass wir Zeugen eines Wendepunkts in unserer Wirtschaftsgeschichte sind: Obwohl die Idee einer immer stärkeren globalen Integration von Wertschöpfungsketten und Versorgungssystemen ideologisch nicht aus der Mode gekommen sein mag, wird ihre praktische Umsetzung in naher Zukunft viel stärker durch geopolitische Realitäten und Beziehungen eingeschränkt werden. Und einige Teile der Welt – insbesondere Europa – werden sich neu erfinden müssen, da sie gezwungen sind, ihre Produktions- und Versorgungsstrategien in großem Maßstab grundlegend zu überdenken. Das könnte dazu beitragen, Europa politisch näher zusammenzubringen, und vor allem ein zwingender Grund sein, nachhaltige Produktions- und Versorgungsstrukturen voranzutreiben, z. B. durch einen stärkeren Ausbau der erneuerbaren Energien oder einen groß angelegten Umbau der europäischen Verkehrssysteme.
Meiner bescheidenen Meinung nach erfordert die Reaktion auf die beispiellosen Umstände, die wir derzeit beobachten, eine Art von wirtschaftlichem Denken, das (a) nach Realismus strebt, (b) bereit und in der Lage ist, sich verändernden sozioökonomischen Kontexten Rechnung zu tragen, (c ) die Heterogenität verschiedener Produktionsprozesse richtig einschätzt und (d) sich um Inklusivität, die Sicherung der Grundbedürfnisse und die Anerkennung der heterogenen Auswirkungen wirtschaftlicher Krisen auf verschiedene Individuen und soziale Gruppen bemüht. Wenn ich in etwa richtig liege, haben wir derzeit eine historische Chance für die heterodoxe Wirtschaftswissenschaft, einige Dinge richtig zu stellen. Und auch wenn unsere Bemühungen vielleicht zu wenig sind und zu spät kommen, sollten wir wie immer versuchen, unser Bestes dafür zu tun!
Alles Gute und machen Sie weiter so!