Als hete­ro­do­xer Öko­nom im Main­stream-Kon­text unter­wegs: Vier Dinge, die typi­scher­weise pas­sie­ren und wie man sie einordnet.

»

Es war mir eine große Freude, an der dies­jäh­ri­gen gro­ßen EAEPE-Kon­fe­renz teil­zu­neh­men, die vor eini­gen Wochen in Leeds statt­fand. Ich genieße immer den plu­ra­lis­ti­schen Geist der EAEPE, die theo­re­ti­sche und metho­di­sche Viel­falt, die sie beinhal­tet, und die Tat­sa­che, dass die Teil­neh­mer gedul­dig und auf­ge­schlos­sen sind, so dass die Gesprä­che über ver­schie­dene hete­ro­doxe Tra­di­tio­nen, sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Dis­zi­pli­nen und kul­tu­relle Hin­ter­gründe hin­weg rei­bungs­los ver­lau­fen. Außer­dem war ich über­glück­lich, so viele alte Freunde sowie eine große Anzahl jun­ger und talen­tier­ter Men­schen zu sehen, was mir in Zei­ten sich über­schnei­den­der Kri­sen etwas Hoff­nung gibt.

Hete­ro­dox Eco­no­mics Newsletter

Der Hete­ro­dox Eco­no­mics News­let­ter wird her­aus­ge­ge­ben von Jakob Kapel­ler und erscheint im drei­wö­chent­li­chen Rhyth­mus mit Neu­ig­kei­ten aus der wis­sen­schaft­li­chen Com­mu­nity mul­ti­pa­ra­dig­ma­ti­scher öko­no­mi­scher Ansätze. Der News­let­ter rich­tet sich an einen Kreis von mehr als 7.000 Empfänger*innen und zählt schon weit mehr als 250 Ausgaben.

Erleb­nisse wie diese ste­hen in kras­sem Gegen­satz zu den Gele­gen­hei­ten, bei denen ich ein­ge­la­den werde, vor einem brei­te­ren Publi­kum zu spre­chen. In sol­chen Kon­tex­ten ver­su­che ich immer, so gedul­dig und höf­lich wie mög­lich zu sein. Nicht nur, weil ich ohne­hin ver­su­che, so zu sein, son­dern auch, weil die Tat­sa­che, dass ich mich als pluralistisch/heterodox iden­ti­fi­ziere, mei­ner Erfah­rung nach schon für genü­gend Irri­ta­tio­nen sorgt. Ähn­lich wie bei EAEPE ver­lau­fen (die meis­ten) Gesprä­che rei­bungs­los, wenn man auf diese Weise vor­geht, und ich betrachte dies immer als eine große Chance zum Ler­nen. Den­noch sind mir im Laufe der Jahre einige Bingo-Mus­ter in die­sen Kon­tex­ten auf­ge­fal­len, die mir bemer­kens­wert erschei­nen. Hier ist also meine vor­läu­fige Liste von

 „die vier etwas unan­ge­neh­men Dinge, die typi­scher­weise pas­sie­ren, wenn ich in einem Main­stream-Kon­text ein­ge­la­den werde“

(1) Es wird erwar­tet, dass man die Main­stream-Ansich­ten und ‑Debat­ten kennt, wäh­rend es legi­tim ist, gegen­über alter­na­ti­ven Per­spek­ti­ven igno­rant zu sein.

Fast alle Gesprä­che sind in dem Sinne ein­sei­tig, dass man sich mit den gän­gi­gen Theo­rien, Men­schen und poli­ti­schen Ansich­ten eini­ger­ma­ßen aus­ken­nen sollte, um ernst genom­men zu wer­den. Wenn man ver­sucht, ein hete­ro­do­xes Kon­zept oder eine Arbeit zu erläu­tern, wird man oft mit dem Rat­schlag unter­bro­chen, man solle doch eine Arbeit lesen, die viel­leicht einen Aspekt des­sen, wor­über man spricht, in einen Main­stream-Rah­men ein­bet­tet. Die­ser Rat­schlag ist zwar im All­ge­mei­nen kon­struk­tiv, aber er kommt oft so schnell, dass er zu signa­li­sie­ren scheint: „Das muss ich nicht wis­sen, das will ich nicht wis­sen“, womit still­schwei­gend sug­ge­riert wird, dass hete­ro­doxe Ansätze über­flüs­sig sind, wenn man das emp­foh­lene Main­stream-Papier stu­diert hat.

(2) Sie wer­den als poli­tisch radi­kal eingestuft

In einem Main­stream-Publi­kum wer­den Sie schnell Leute fin­den, die Sie auf­klä­ren wol­len, indem sie dar­auf hin­wei­sen, dass „mit der Main­stream-Öko­no­mie sehr linke Dinge gemacht wer­den kön­nen, wenn man sie rich­tig inter­pre­tiert“. Hmmm, ok, für mich ist das immer ver­wir­rend. Ob Sie es glau­ben oder nicht, ich ver­su­che, die theo­re­ti­schen Kon­zepte und Ansätze aus­zu­wäh­len, die für eine bestimmte Situa­tion oder ein bestimm­tes Pro­blem am bes­ten geeig­net sind (wäh­rend die Main­stream-Öko­no­men die­je­ni­gen ver­wen­den, die unter den Top 5–25 zu fin­den sind ;-). Ob ein bestimm­tes Modell oder ein bestimm­ter Ansatz mit mei­nen per­sön­li­chen poli­ti­schen Ansich­ten über­ein­stimmt, ist mir in der Tat ziem­lich egal.

(3) Sie sind mit einer wider­sprüch­li­chen Hal­tung konfrontiert

Wenn man Sie mit Kri­tik oder alter­na­ti­ven Ansich­ten kon­fron­tiert, die im Gegen­satz zur Lehr­buch­öko­no­mie ste­hen, wird man Ihnen schnell sagen, dass Sie eine völ­lig ver­al­tete Ver­sion der Öko­no­mie ver­tre­ten, die nichts mit der aktu­el­len For­schung und dem Den­ken zu tun hat, das die moder­nen Wirt­schafts­fa­kul­tä­ten prägt. Bei einem locke­ren Gespräch beim Abend­essen müs­sen Sie dann oft sehr schnell zäh­len, um alle impli­zi­ten und expli­zi­ten Ver­weise auf ein­fa­che Lehr­buch­sche­mata wie ratio­nale Agen­ten oder per­fek­tem Wett­be­werb ähn­li­che Ange­bots- und Nach­fra­ge­sys­teme zu sammeln.

(4) Sie wer­den schlechte Erin­ne­run­gen wecken

Sie bekom­men min­des­tens eine Geschichte über: „der faule hete­ro­doxe Kol­lege, der frus­triert und läs­tig wurde“ / „die igno­ran­ten Stu­den­ten, die sich erst ein­mal die Zeit neh­men soll­ten, die grund­le­gen­den Modelle zu ver­ste­hen“ / „der eine hete­ro­doxe Dozent, der einen schlech­ten Kurs mit ver­al­te­tem Mate­rial gab“ / „die ver­mut­lich eben­falls hete­ro­doxe Per­son, die mich auf Twit­ter beschimpfte“. Es ist nicht ganz klar, warum diese Geschichte erzählt wird, wahr­schein­lich um zu erkun­den, inwie­weit ich geneigt wäre, solch bös­ar­ti­ges Ver­hal­ten zu verteidigen ;-)

Mei­ner Mei­nung nach soll­ten diese Punkte nicht als per­sön­li­che Schimpf­ti­rade auf­ge­fasst wer­den, son­dern viel­mehr einige Lek­tio­nen dar­über ver­mit­teln, wie sehr para­dig­ma­ti­sche Grund­la­gen und die Inves­ti­tion in die eige­nen Fähig­kei­ten und frü­he­ren Arbei­ten, die mit sol­chen Grund­la­gen ver­bun­den sind, die eigene beruf­li­che (und manch­mal auch per­sön­li­che) Iden­ti­tät prä­gen. In allen vier genann­ten Punk­ten steckt also ein Begriff von „kogni­ti­ver Dis­so­nanz“, der als Hoff­nungs­schim­mer für die Eta­blie­rung eines theo­re­tisch inklu­si­ve­ren Dis­kur­ses in den Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten die­nen kann (in noch etwas fer­ner Zukunft ;-)

Gleich­zei­tig möchte ich klar­stel­len, dass ich trotz die­ser etwas regel­mä­ßi­gen und bemer­kens­wer­ten Mus­ter sehr viel Spaß an para­dig­men- und dis­zi­pli­nen­über­grei­fen­den Inter­ak­tio­nen habe – und das gilt auch für meine geschätz­ten Mainstream-Kollegen!

Ich wün­sche Ihnen alles Gute,

Jakob
«

* Ich könnte im Laufe mei­ner Kar­riere tat­säch­lich einige Ergeb­nisse nen­nen, die poli­ti­sche Impli­ka­tio­nen hat­ten, die mei­nen per­sön­li­chen poli­ti­schen Ansich­ten zuwi­der­lie­fen (nied­ri­gere Mul­ti­pli­ka­to­ren als erwar­tet sind nur ein Beispiel ;-).

Gesam­ten News­let­ter mit Links und Hin­wei­sen lesen (EN)
Alle HEN-Edi­to­ri­als im ifsoblog