Die Einführung eines „sozialen Arbeitsmarktes“ im Jahr 2019 stellt eine bedeutende Verschiebung in der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland dar. Kann dieser auch zu mehr sozialer Teilhabe führen?
ehlende Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe stehen häufig mit Erwerbslosigkeit in Verbindung. Erwerbsarbeit erfüllt in Arbeitsgesellschaften nicht nur materielle und psychosoziale Funktionen, sondern vermittelt zudem einen sozialen Status und anerkannten Platz in der Gesellschaft. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik kann demnach eine wichtige Ressource für soziale Teilhabe sein, jedoch ebenso Ausgrenzungserfahrungen verstärken.
Arbeitsmarktpolitik in Deutschland weist unterschiedliche und sich wandelnde Ziele auf. Mit den „Hartz-Reformen“ hat sich die aktivierende Arbeitsmarktpolitik etabliert, die vor allem die Angebotsseite, also die erwerbslosen Personen und deren „Beschäftigungsfähigkeit“ in den Blick nimmt. Die gesellschaftliche Teilhabe von erwerbslosen Personen zu sichern bzw. zu erweitern, wurde in der Aktivierungspolitik bislang in einer ambivalenten Art und Weise angesprochen. Gemeint sind damit zwei zusammenhängende Bereiche, die den Kern des Prinzips „Fördern und Fordern“ ausmachen:
„Hartz-IV“ als finanzielle Grundsicherung: Ein Mindestmaß an Teilhabe soll für erwerbsfähige Personen durch die Gewährleistung eines Existenzminimums gesichert werden. Dieses kann bei „Pflichtverletzungen“ wie z. B. Meldeversäumnissen durch Sanktionen aber auch erheblich gekürzt werden.
Leistungen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt: In der aktiven Arbeitsmarktpolitik wird Teilhabeförderung vor allem durch Maßnahmen zur Eingliederung in Erwerbsarbeit angestrebt (z. B. Weiterbildungsmaßnahmen, Bewerbungstrainings, Beratungs- und Vermittlungsaktivitäten der Jobcenter).
In der akademischen Debatte wird allerdings schon länger davon gesprochen, dass sich die Aktivierungspolitik des „Förderns und Forderns“ erschöpft hat (siehe z. B. Brussig 2018). Themen sind hier unter anderem, dass für Personen in langer Arbeitslosigkeit oftmals nur geringe Chancen bestehen, in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis zu kommen sowie die mit Langzeitarbeitslosigkeit verbundenen negativen Folgen für die Betroffenen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt.
Der Autor
Philipp Langer ist Stipendiat im Promotionskolleg „Politische Ökonomie der Ungleichheit“. Seine Schwerpunkte: Arbeitsmarkt und Sozialpolitik.
Vor diesem Hintergrund fand 2019 eine bedeutende Verschiebung in der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland statt. Im Rahmen des „Teilhabechancengesetzes“ wurde der sogenannte „soziale Arbeitsmarkt“ eingeführt, wenn auch erstmal nur befristet. Mit diesem wird, über die „klassischen“ Anliegen der Erwerbsintegration und Herstellung von Beschäftigungsfähigkeit hinaus, das Ziel verfolgt, durch Arbeitsmarktpolitik die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe von langzeitarbeitslosen Personen zu erweitern.
Sozialer Arbeitsmarkt: Teilhabechancen durch öffentlich geförderte Beschäftigung
Die Einführung eines sozialen Arbeitsmarktes folgt der grundlegenden Idee, (langer) Erwerbslosigkeit mit öffentlich geförderter Arbeit zu begegnen und damit die vielen negativen Folgen eines (dauerhaften) Ausschlusses vom Arbeitsmarkt zu reduzieren.
Das Teilhabechancengesetz stellt hierbei einen bedeutenden Schritt in der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik dar. Denn damit wurde das Anliegen, die Teilhabechancen von erwerbslosen Personen zu fördern, als explizites Ziel in ein reguläres Instrument der Jobcenter aufgenommen. Dabei löst sich die Maßnahme auch vom „Vermittlungsvorrang“ in der Arbeitsmarktpolitik, also der eigentlich zu priorisierenden Vermittlung in nicht geförderte Erwerbsarbeit (IAB 2021, S. 23).
Das Teilhabechancengesetz (§ 16i SGB II) beinhaltet für langzeitarbeitslose Personen unter anderem:
Eine Förderung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse wenigstens auf Basis des gesetzlichen Mindestlohns.
Die Förderung kann bis zu fünf Jahre betragen und ist bei privatwirtschaftlichen und gemeinnützigen Arbeitgebern möglich. „Klassische“ Arbeitsplätze sind z. B. in der Grünflächenpflege oder als Assistenz im Pflegebereich.
Bei öffentlich geförderter Erwerbsarbeit, die von den Rahmenbedingungen einer Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nahekommt (z. B. durch einen richtigen Arbeitsvertrag und einer Vergütung auf Höhe des gesetzlichen Mindestlohns), zeigen bisherige Studien positive Wirkungen auf bestimmte Bereiche sozialer Teilhabe (z. B. Anstieg der Lebenszufriedenheit, Verbesserung des Gesundheitszustand und das Erfahren von Anerkennung) (IAQ et al. 2019; Ivanov et al. 2020).
Perspektive: „Recht auf Arbeit“ als Teilhabegarantie?
Der „soziale Arbeitsmarkt“ ist zunächst bis zum Jahr 2024 befristet. Ob das Instrument verlängert oder entfristet wird, hängt maßgeblich von der Evaluation des Teilhabechancengesetzes durch das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) ab. Hier wurde gerade der erste Zwischenbericht veröffentlicht (IAB 2021) und von Seiten des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) ein erstes positives Fazit gezogen (BMAS 2021).
Die Politische Ökonomie der Ungleichheit
Das Promotionskolleg „Die Politische Ökonomie der Ungleichheit“ untersucht Ausmaß, Ursachen und Folgen steigender sozioökonomischer Ungleichheit. Materielle Unterschiede stehen dabei im Mittelpunkt, werden aber stets in Zusammenhang zu politischen, sozialen und ökologischen Aspekten gesetzt. Die Forschungspraxis ist von einem interdisziplinären und anwendungsorientierten sozioökonomischen Ansatz geprägt. Zur Übersicht aller Blogbeiträge der Mitglieder aus dem Promotionskolleg
Mit dem Auslaufen des Gesetzes sind, mit Blick auf die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf den Arbeitsmarkt, zwar auch Debatten zur adäquaten Nutzung der finanziellen Mittel zu erwarten. Demgegenüber steht, dass aktuell (wieder) verstärkt Konzepte aufgeworfen werden, die eine Weiterentwicklung öffentlich geförderter Beschäftigung als Instrument zur Sicherung und Schaffung von gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten beinhalten. Unter den Stichwörtern „Recht auf Arbeit“ oder „Jobgarantie“ finden sich entsprechende Vorschläge etwa in aktuellen Entwürfen von Wahlprogrammen zur Bundestagswahl 2021 (SPD 2021) und in wissenschaftlichen Veröffentlichungen (Tcherneva 2021).
Im Hinblick auf eine mögliche Weiterführung oder einen Ausbau des „sozialen Arbeitsmarktes“ ist zu beobachten, wie das Ziel der Teilhabeförderung in der Arbeitsmarktpolitik verstanden und umgesetzt wird. Naheliegend ist, dass das Ziel der Teilhabe in die Aktivierungslogik übersetzt wird und mit der „bewährten“ Praxis der Jobcenter zwischen Beratung, Anreizen und Sanktionen auf die Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt zielt. Denkbar ist aber auch, dass perspektivisch anerkannt wird, dass die Grundsicherung für Arbeitsuchende einen Teilhabeauftrag über die unmittelbare Erwerbsintegration hinaus hat (Knuth 2018). In diesem Fall wären Teilhabemöglichkeiten – etwa im Sinne einer „Jobgarantie“ – verpflichtend für diejenigen zu schaffen, die zwar als erwerbsfähig gelten, aber kaum eine realistische Perspektive auf eine Erwerbsarbeit im allgemeinen Arbeitsmarkt haben. Zu fragen ist dann, ob es gelingt, durch eine öffentlich geförderte Beschäftigung die tatsächlichen Handlungs- und Entscheidungsspielräume von erwerbslosen Personen nachhaltig zu erweitern. Damit könnte der „soziale Arbeitsmarkt“ einen Beitrag zu einer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik leisten, die weniger auf die Prinzipien „Aktivierung“ und „Fordern“ setzt, sondern Autonomie und reale Handlungsfreiheiten im Lebensverlauf aller Gesellschaftsmitglieder sichern und erweitern möchte (siehe z. B. einen aktuellen Vorschlag von Brettschneider und Klammer 2020).
BMAS (2021): Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Umsetzung des Teilhabechancengesetzes auf Grundlage des Zwischenberichts der Evaluation durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. Berlin.
Brettschneider, Antonio; Klammer, Ute (2020): Vorbeugende Sozialpolitik: Grundlinien eines sozialpolitischen Forschungsprogramms. Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung. Düsseldorf (Vorbeugende Sozialpolitik, 01).
Brussig, Martin (2018): Aktivierende Arbeitsmarktpolitik. Neuere Untersuchungen zum Wandel des Arbeitsmarktes und zur Arbeitsförderung. In: Soziologische Revue 41 (3), S. 419–435. DOI: 10.1515/srsr-2018–0053.
IAB (2021): Evaluation der Förderinstrumente nach §16e und §16i SGB II – Zwischenbericht. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. Nürnberg.
IAQ; ZEW; ZOOM; SOKO (2019): Evaluation des Bundesprogramms „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ – Endbericht. Hg. v. Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Berlin (BMAS-Forschungsbericht 535).
Ivanov, Boris; Pfeiffer, Friedhelm; Pohlan, Laura (2020): Do job creation schemes improve the social integration and well-being of the long-term unemployed? In: Labour Economics 64, S. 101836. DOI: 10.1016/j.labeco.2020.101836.
Knuth, Matthias (2018): Arbeitsmarktpolitik als Inklusionsprojekt? In: WSI 71 (6), S. 456–467. DOI: 10.5771/0342–300X-2018–6‑456.
SPD (2021): Das Zukunftsprogramm: Wofür wir stehen. Was uns antreibt. Wonach wir streben. Entwurf des SPD-Wahlprogramms zur Bundestagswahl 2021. Berlin.
Tcherneva, Pavlina R. (2021): Plädoyer für eine Jobgarantie. Berlin: Lola Books.
Kurz zusammengefasst
Die Einführung eines „sozialen Arbeitsmarktes“ im Jahr 2019 stellt eine bedeutende Verschiebung in der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland dar. Denn mit diesem wird über die „klassischen“ Anliegen der Erwerbsintegration und Herstellung von Beschäftigungsfähigkeit hinaus das Ziel verfolgt, durch eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe von langzeitarbeitslosen Personen zu erweitern. Ob und wie dies gelingt, bleibt zukünftig spannend zu beobachten, insbesondere im Hinblick auf die zuletzt verstärkt geführte Debatte um ein „Recht auf Arbeit“.