Über die post­keyne­sia­ni­sche Theo­rie der Kon­flikt­in­fla­tion und ihrer Kon­text­ge­bun­den­heit sowie zur Frage was aktu­ell poli­tisch gebo­ten sein sollte.

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Aus offen­sicht­li­chen Grün­den ist das Haupt­thema des öffent­li­chen Inter­es­ses im Glo­ba­len Nor­den in die­sen Tagen die Infla­tion, was zwar ver­ständ­lich ist (in der Ver­gan­gen­heit sind die Infla­ti­ons­ra­ten stark gestie­gen), aber auch etwas igno­rant (da die weit­aus höhe­ren Infla­ti­ons­ra­ten in den Län­dern des Glo­ba­len Südens nie ein ähn­li­ches Maß an Auf­merk­sam­keit erre­gen). Diese Beob­ach­tung ver­an­schau­licht nicht nur, dass die öffent­li­che Auf­merk­sam­keit oft eigen­nüt­zig ist (lei­der wer­den Dinge nur dann inter­es­sant, wenn wir glau­ben, dass sie uns betref­fen – ein Trend, der auch beim Kli­ma­wan­del und der glo­ba­len Erwär­mung zu beob­ach­ten ist), son­dern weist – auf einer etwas tie­fe­ren Ebene – auf die Tat­sa­che hin, dass die „Infla­tion“ ein Bei­spiel par excel­lence dafür ist, wie wirt­schaft­li­che Dyna­mi­ken und Mecha­nis­men sozio-his­to­risch kon­tin­gent sind. Las­sen Sie mich die­sen Punkt ein wenig näher erläu­tern: Mei­ner Erfah­rung nach ver­tre­ten die meis­ten hete­ro­do­xen Ökonom*innen eine Form der Kon­flikt­in­fla­tion, ein Kon­zept, das wahr­schein­lich am deut­lichs­ten in der post­keyne­sia­ni­schen Tra­di­tion aus­ge­ar­bei­tet wurde. Nach die­ser Auf­fas­sung wird die Infla­tion durch Ver­tei­lungs­kon­flikte aus­ge­löst, d. h. Arbeitnehmer*innen for­dern höhere Löhne (deren Ver­hand­lungs­macht durch die Arbeits­lo­sig­keit ein­ge­schränkt wird) und Unter­neh­men set­zen höhere Preise fest (deren Preis­set­zungs­macht durch den Wett­be­werb ein­ge­schränkt wird), um ihre Gewinne zu stei­gern. Nun wird typi­scher­weise ange­nom­men, dass der Wett­be­werb nicht so hart ist, sodass die zweite Ein­schrän­kung igno­riert wer­den kann und höhere Lohn­for­de­run­gen zwar zu einer zusätz­li­chen Dyna­mik in lohn­ab­hän­gi­gen Volks­wirt­schaf­ten füh­ren, sich aber in höhe­ren Prei­sen nie­der­schla­gen, da die Auf­schläge kon­stant sind.

Hete­ro­dox Eco­no­mics Newsletter

Der Hete­ro­dox Eco­no­mics News­let­ter wird her­aus­ge­ge­ben von Jakob Kapel­ler und erscheint im drei­wö­chent­li­chen Rhyth­mus mit Neu­ig­kei­ten aus der wis­sen­schaft­li­chen Com­mu­nity mul­ti­pa­ra­dig­ma­ti­scher öko­no­mi­scher Ansätze. Der News­let­ter rich­tet sich an einen Kreis von mehr als 7.000 Empfänger*innen und zählt schon weit mehr als 250 Ausgaben.

Diese Sicht­weise lässt sich empi­risch gut bele­gen, wenn man die Jahr­zehnte im Glo­ba­len Nor­den seit dem Zwei­ten Welt­krieg betrach­tet; ins­be­son­dere der Rück­gang der Infla­tion par­al­lel zur Abnahme der Ver­hand­lungs­macht der Arbeitnehmer*innen ab den 1980er Jah­ren stimmt gut mit der theo­re­ti­schen Dar­stel­lung über­ein. Im Gegen­satz zu der seit lan­gem vor­herr­schen­den Ansicht der Wirtschaftswissenschaftler*innen, dass die Infla­tion durch die Geld­menge, d. h. nied­rige Zins­sätze, ange­trie­ben wird, wür­den die Befürworter*innen der Kon­flikt­in­fla­tion wahr­schein­lich behaup­ten, dass „fri­sches Geld“ in der Regel zu einem Anstieg der nach­ge­frag­ten Menge führt, außer in sehr spe­zi­el­len Fäl­len, in denen eine harte Kapa­zi­täts­grenze (typi­scher­weise Voll­be­schäf­ti­gung) erreicht wird und die Preise stei­gen. Wie so oft hat Joan Robin­son den Kon­flikt­stand­punkt zu die­sem Thema sehr schön zusam­men­ge­fasst (siehe hier), indem sie feststellte:

„Die Preise der Hersteller*innen sind ziem­lich unemp­find­lich gegen­über Nach­fra­ge­schwan­kun­gen, reagie­ren aber schnell auf Ver­än­de­run­gen der Kos­ten.“ – Joan Robinson

Obwohl ich also der Über­zeu­gung bin, dass die Kon­flikt­theo­rie einige Vor­züge hat, sollte klar­ge­stellt wer­den, dass sie in die­ser ein­fa­chen Form keine sozio-his­to­risch erschöp­fende Theo­rie ist, keine Theo­rie, die auf jede Zeit, jeden Ort und jeden Kon­text anwend­bar ist (und fort­ge­schrit­tene Lehr­buch­ab­hand­lun­gen, z. B. hier, erken­nen das an, indem sie Hilfs­fak­to­ren in das grund­le­gende Kon­flikt­mo­dell auf­neh­men, um es erschöp­fen­der zu machen). So wurde die Infla­ti­ons­dy­na­mik der Ver­brau­cher­preise vor dem 20. Jahr­hun­dert in der Regel durch etwas ange­trie­ben, das die Kon­flikt­theo­rie als Aus­nahme betrach­tet – näm­lich harte Ange­bots­gren­zen –, da die Infla­tion zu einem gro­ßen Teil von den Getrei­de­prei­sen abhing, die auf­grund des unter­schied­li­chen Ern­te­er­folgs jähr­lich schwank­ten. Ein zwei­tes Bei­spiel ist die Situa­tion vie­ler Län­der des Glo­ba­len Südens heute, wo die inlän­di­sche Infla­tion viel stär­ker von inter­na­tio­na­len Fak­to­ren wie der Ent­wick­lung der Wech­sel­kurse, inter­na­tio­na­len Finanz­spe­ku­la­tio­nen, der Wahr­neh­mung der Zah­lungs­fä­hig­keit durch den Glo­ba­len Nor­den oder der Preis­ent­wick­lung impor­tier­ter Güter abhängt und daher einen ganz ande­ren, mul­tik­au­sa­len theo­re­ti­schen Appa­rat benö­tigt, um effek­tiv ver­stan­den zu werden.

Und natür­lich beruht das kon­flikt­theo­re­ti­sche Gegen­ar­gu­ment zu den angeb­lich infla­ti­ons­för­dern­den Aus­wir­kun­gen einer Geld- und Kre­dit­ver­meh­rung auf der Annahme, dass alle zusätz­li­chen Mit­tel für Kon­sum- und Inves­ti­ti­ons­gü­ter aus­ge­ge­ben und nicht für den Kauf bestehen­der Ver­mö­gens­werte auf­grund von Preis­spe­ku­la­tio­nen ver­wen­det wer­den. Wie inzwi­schen all­ge­mein dis­ku­tiert wird, könnte letz­te­res zu einer Infla­tion der Ver­mö­gens­preise füh­ren, was ein etwas ande­res Thema ist, das von den her­kömm­li­chen Ansät­zen zur Ver­brau­cher­preis­in­fla­tion meist aus­ge­klam­mert wird.

Alle diese Bei­spiele kön­nen in irgend­ei­ner Weise mit Ver­tei­lungs­kon­flik­ten im All­ge­mei­nen in Ver­bin­dung gebracht wer­den, und einige wer­den sogar in der aktu­el­len For­schung behan­delt, oft auf der Grund­lage des Kon­flikt­mo­dells. Dies deu­tet dar­auf hin, dass ein Weg darin besteht, die Ein­schrän­kun­gen, die den Anwen­dungs­be­reich der ein­fa­chen Ver­sion des Modells limi­tie­ren, deut­lich her­aus­zu­stel­len. Ein sehr hand­fes­ter Grund für die Beto­nung die­ses Aspekts ist, dass – ähn­lich wie bei mei­nem ers­ten Bei­spiel oben – exo­gene geo­po­li­ti­sche Ver­schie­bun­gen und not­wen­dige öko­lo­gi­sche Umstruk­tu­rie­run­gen den Aus­nah­me­fall „har­ter Ver­sor­gungs­gren­zen“ für einen län­ge­ren Zeit­raum zur Regel machen kön­nen. Wäh­rend die glo­ba­len Ver­sor­gungs­ket­ten in den kom­men­den Mona­ten teil­weise wie­der­her­ge­stellt wer­den könn­ten, wer­den die Preise für Lebens­mit­tel und Ener­gie auf­grund der geo­po­li­ti­schen Eska­la­tion wahr­schein­lich hoch blei­ben. Auch ein bewuss­ter Aus­stieg aus der Nut­zung fos­si­ler Res­sour­cen würde wahr­schein­lich mit eini­gen har­ten Ein­schrän­kun­gen ver­bun­den sein.

Was bedeu­tet dies alles für die Poli­tik? Aus­ge­hend von eini­gen Ein­sich­ten, die sich aus den Über­le­gun­gen zur Kon­flikt­theo­rie erge­ben, würde ich dazu nei­gen, das Fol­gende zu befürworten:

1.

Um die Infla­tion zu sen­ken, ist das ein­zig Ver­nünf­tige, was man tun kann, die Wert­schöp­fungs­ket­ten wie­der rei­bungs­lo­ser lau­fen zu las­sen. Die offen­sicht­li­che Alter­na­tive zur Wie­der­be­le­bung glo­ba­ler Wert­schöp­fungs­ket­ten, wie sie vor Corona funk­tio­nier­ten, besteht darin, ein star­kes Res­ho­ring zu betrei­ben und zu ver­su­chen, wo immer mög­lich glo­bale durch lokale oder kon­ti­nen­tale Wert­schöp­fungs­ket­ten zu ersetzen.

2.

Im Hin­blick auf den öko­lo­gi­schen Umbau sind hohe Preise für (fos­sile) Ener­gie eigent­lich Teil der Lösung, nicht des Pro­blems. Rich­tig ist, dass diese Preis­stei­ge­run­gen uns jetzt ärmer machen, aber sie erhö­hen unsere lang­fris­ti­gen Über­le­bens­chan­cen (was unsere Main­stream-Freunde gerne radi­kal abtun, aber ich bin nicht so ein Typ ;-). In die­sem Zusam­men­hang stel­len wir auch fest, dass eine zen­trale Annahme des Kon­flikt­in­fla­ti­ons­mo­dells – dass der Wett­be­werb zu schwach ist, um die Preise zu sen­ken – heute tat­säch­lich zutrifft, wie die außer­or­dent­lich hohen Gewinne der Ener­gie­un­ter­neh­men zei­gen. Die offen­sicht­li­che poli­ti­sche Kon­se­quenz hier­aus ist, diese außer­or­dent­li­chen Gewinne durch außer­or­dent­li­che Steu­ern zu besteu­ern, nicht nur um die Ergeb­nis­ge­rech­tig­keit zu erhö­hen, son­dern auch um sicher­zu­stel­len, dass diese Gewinne nicht zur Schaf­fung wei­te­rer fos­si­ler Ver­mö­gens­werte ver­wen­det werden.

3.

Die Kon­flikt­theo­rie unter­streicht die ent­schei­dende Rolle der Ver­tei­lung in Infla­ti­ons­kon­tex­ten. Auf die­ser Intui­tion auf­bau­end würde ich argu­men­tie­ren, dass ange­sichts der aktu­el­len Ereig­nisse das wich­tigste Ver­tei­lungs­maß nicht die Lohn­quote (der übli­che Favo­rit der Post-Keyne­sia­ner ;-), son­dern viel­mehr die Armuts­quote ist. Da stei­gende Preise für viele Haus­halte bedeu­ten, dass sie bei den „Grund­be­dürf­nis­sen“ – Essen, Hei­zen, zur Arbeit gehen usw. – Abstri­che machen müs­sen, sollte die Unter­stüt­zung in ers­ter Linie den Haus­hal­ten in den unte­ren Ein­kom­mens­schich­ten zugute kom­men. Die Idee ist ein­fach: Wenn wir im Durch­schnitt etwas ärmer wer­den, soll­ten wir alles tun, um sicher­zu­stel­len, dass diese Last nicht gleich­mä­ßig ver­teilt wird, son­dern von den­je­ni­gen Unter­neh­men und Haus­hal­ten getra­gen wird, die dazu in der Lage sind.

Alles Gute,

Jakob
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PS: Dies ist die 300. Aus­gabe des News­let­ters, und ursprüng­lich wollte ich ein Edi­to­rial schrei­ben, um all die Bemü­hun­gen mei­nes Teams, der frü­he­ren Redakteur*innen, der Insti­tu­tio­nen, die uns unter­stützt haben, usw. zu wür­di­gen. Wie Sie sehen, bin ich geschei­tert, denn in Zei­ten wie die­sen wer­den lang­fris­tige Über­le­gun­gen und Ereig­nisse oft von eher kurz­fris­ti­gen Sor­gen über­la­gert, die den Geist der beschei­de­nen Wirt­schafts­stu­die­ren­den beschäftigen ;-)

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