Vor etwa zehn Jahren wurde ein ehemaliger Lehrer von mir, der inzwischen zu einem geschätzten Kollegen und Freund geworden war, in den Ruhestand verabschiedet. Er war ein postkeynesianischer Wirtschaftswissenschaftler in einer Mainstream-Abteilung, und die Laudatio wurde von einem seiner hochrangigen Mainstream-Kollegen gehalten. An einer Stelle der Rede erwähnte der Laudator die Kaleckschen Modelle, die mein Freund sehr schätzte, und fügte hinzu, dass diese Klasse von Modellen möglicherweise nicht so sehr hätte vernachlässigt werden dürfen, da nicht auszuschließen sei, dass sie wichtige Erkenntnisse liefern, die jetzt strukturell übersehen werden. Nun, vielleicht war dieses implizite Argument für den Pluralismus nur eine höfliche Geste. Aber in der Miene des Referenten spürte ich etwas anderes, nämlich Bedauern. Und in der Tat, bis zu seiner Post-Doc-Phase arbeitete der ältere Mainstream-Kollege auch selbst aktiv an Kaleckschen Modellen – sie tauchten sogar in seiner Doktorarbeit auf (die ich vor vielen Jahren gelesen habe), aber dann ließ er das Thema fallen, weil es aus der Mode kam. Und noch dreißig Jahre später war er sich anscheinend nicht sicher, ob er damals die richtige erkenntnistheoretische Entscheidung getroffen hatte.
Heterodox Economics Newsletter
Der Heterodox Economics Newsletter wird herausgegeben von Jakob Kapeller und erscheint im dreiwöchentlichen Rhythmus mit Neuigkeiten aus der wissenschaftlichen Community multiparadigmatischer ökonomischer Ansätze. Der Newsletter richtet sich an einen Kreis von mehr als 7.000 Empfänger*innen und zählt schon weit mehr als 250 Ausgaben.
Vielleicht ist meine Interpretation dieser vergangenen Ereignisse falsch, aber die zugrundeliegende Intuition – dass einige vernünftige Mainstream-Kollegen ihr Bedauern oder ihre Unsicherheit über die von der Disziplin und, damit zusammenhängend, von ihnen selbst eingeschlagenen Wege zum Ausdruck bringen – kommt mir regelmäßig in den Sinn. Es gibt sogar eine ganze Reihe von Papieren, die ich als „Bedauernspapiere“ betrachte, wie John Hicks’ „IS-LM: An Explanation“, Paul Romers Betrachtung der „Mathiness“ von DSGE-Modellen, Georg Akerlofs Besorgnis über strukturelle „Sins of Omission“, Thomas Pikettys einleitende Bemerkungen über die Wirtschaftswissenschaft in „Capital in the 21st century“ und, bis zu einem gewissen Grad, Alan Blinders Klassiker über „the economics of brushing teeth“.
Eine interessante Ergänzung zu dieser Liste bietet Angus Deatons jüngster Beitrag über „Rethinking (my) economics“, in dem er nicht nur einige der wichtigsten blinden Flecken etablierter Theorien aufzeigt, sondern auch auf wichtige politische Fragen wie die Rolle der Gewerkschaften oder des Freihandels hinweist, bei denen er seine Meinung tatsächlich geändert und sich von den Mainstream-Positionen entfernt hat. Während bereits das jüngste Buch von Deaton und Anne Case – über „Deaths of Despair“ – darauf hinwies, dass Deaton & Case eine kritische Haltung einnehmen können, die mit heterodoxen Darstellungen zur Koevolution von Kapitalismus und öffentlicher Gesundheit in Einklang steht, wird diese kritische Haltung in diesem kurzen Beitrag nun direkter im Hinblick auf den Zustand der Wirtschaftswissenschaft erläutert. Während einige sagen mögen, dass dies noch zu wenig und zu spät ist, und andere hinzufügen mögen, dass Deatons Sichtweise auf die Migration einseitig ist, freue ich mich über jede Wende, die ungefähr in die richtige Richtung geht ;-)
Alles Gute!