Sie verdinglichen soziale Interaktion, sind höchst profitabel – und machen Europa abhängig. Zeit für eine europäische Technologiepolitik zugunsten der heimischen Industrie.
ach einem Abend in der Kneipe mit Kolleg*innen, wollte ich nur noch kurz meiner Freundin schreiben, bevor es ins Bett geht. Es war wohl das letzte Bier, das mich dazu ermutigt hat, den damals neuen Whatsapp-Chatbot auszuprobieren. Das nächste woran ich mir erinnern kann, ist, dass ich mich tief in einer Diskussion verstrickt habe über KI, Wissenschaftsphilosophie, und politische Ökonomie – mit dem Chatbot. Neben einem verwirrten „wtf“ meiner Freundin am nächsten Morgen, hat mir diese Erfahrung demonstriert, dass die Verwendung von KI einen kritischen Wandel vollzogen hat. Die KI-Chatbots sind in der Lage Interkationen selbst zu verdinglichen.
Während eine Diskussion um Verdinglichung noch recht philosophisch klingt, birgt dieser technologische Schritt das Potenzial für gesellschaftliche und wirtschaftliche Umwälzungen. Der Enthusiasmus für eine Investitionsoffensive in KI vom CDU-Digitalminister und der IGM-Chefin sollte demnach mit einem gesunden Maß an Vorsicht und kritische Abwägung genossen werden. Zunächst bieten KI-Chatbots die Möglichkeit „soziale“ Interaktionen zu einem eigenen Geschäftsmodell zu erheben und so profitorientierten Marktlogiken zu unterwerfen (was ich hier bespreche). Diese wirtschaftliche Expansion bietet jedoch wenige wirtschaftliche Versprechungen in Europa – aufgrund unserer ökonomischen Grundstruktur (was ich hier ausführe) – und liefert zugleich so einige soziale Risiken, die drohen Einsamkeit und sozialen Druck weiter zu verschärfen. Hierbei darf man nicht vergessen, dass die KI-Industrie auch eine gesamte politische Ökonomie rechtsradikaler politischer Ideologie innewohnt, die der amerikanischen Geopolitik extra Druck verleiht. Der Enthusiasmus für KI sollte also wohl temperiert sein.
Der Autor
Thabo Huntgeburth promoviert in Entwicklungsökonomie an der SOAS University of London. Er forscht zur politischen Ökonomie des Kapitalismus, zur Organisation von Arbeitsverhältnissen und zu alternativen Wirtschaftsformen mit Fokus auf feministische und dekoloniale Ansätze.
Wie KI-Chatbots Interaktionen verdinglichen
Für die philosophischen Grundlagen zu Verdinglichung hilft es sich etwas an Marx zu orientieren. Demnach bedeutet Verdinglichung, dass bestimmte soziale Verhältnisse in einem abstrakten Konzept aufgehen und so nicht mehr als tatsächlich soziale Verhältnisse erkannt werden. Wenn ich beispielsweise eine Tasse kaufen gehe, dann denke ich weder an die rechtliche Konstruktion der Ikea GmbH & Co KG, noch an die tausenden Stunden menschlicher Arbeit, die in die Produktion der Tasse und der beteiligten Maschinen geflossen sind. In Wirklichkeit denke ich nur daran wie ich am besten zum Ikea komme und in welchem Regal die Tassen sind. Diese Verdinglichung geht noch einen Schritt weiter im digitalen Kapitalismus. Die großen Silicon Valley Unternehmen kreieren Daten, die unsere Identität, Verhaltensweisen, und Kontakte einfangen und buchstäblich berechenbar machen (Shoshana Zuboff nennt das Surveillance Capitalism). Diese datenbasierte Form der Verdinglichung bildet seit Kurzem auch die Grundlange, um KI-Modelle zu entwickeln.
Die KI-Chatbots sind nun in der Lage den nächsten qualitativen Sprung zu machen. Diese Modelle sind so programmiert, dass sie in Chats mit vermeintlicher Empathie und einsichtigen Antworten die Nutzer*innen in ein Gespräch verwickeln. Es war genau dieser psychologische Mechanismus, der mir eine Stunde meines Schlafs gekostet hat (anstatt einfach auf die Nachrichten meiner Freundin zu antworten). Dabei vergisst man schnell das Kleingedruckte: jedwede Interaktion mit dem Chatbot wird Eigentum des Konzerns – im Fall Whatsapp also der Social-Media-Gigant Meta. Das ist grundverschieden von anderen Geschäftsmodellen, die auf sozialen Interaktionen basieren, so wie Kneipen: unser betrunkenes Gespräch mit Freund*innen wird nie Eigentum des Barmanns. Im Unterschied dazu sind die KI-Chatbots in der Lage die Interaktion selbst zu verdinglichen und zu Besitz zu machen.
Soziale und Ökonomische Konsequenzen neuer KI
Diese Verdinglichung bleibt nicht ungenutzt in einer profitbasierten Marktwirtschaft. Zum einen ist da die Anwendung von KI-Chatbots in Dating Apps. Die Idee ist, dass ein KI-Modell Menschen dabei helfen soll, ein Gespräch zu führen, und zwar mit statistisch genau bestimmtem Charme. Das führt nicht nur zu Misstrauen auf der einen Seite bezüglich der Authentizität des Chat-Partners („finde ich den Menschen sympathisch oder ist das sein Chatbot?“), sondern potenziell auch zur Abhängigkeit von KI-Modellen, um zwischenmenschliche Verbindungen zu ermöglichen. Zum anderen sind da die ersten Versuche, Accounts auf sozialen Plattformen zu etablieren, die komplett von KI-Modellen mit distinkter (programmierter) Persönlichkeit gesteuert werden. Hier schlugen bereits Alarmglocken bei Psycholog*innen, die erhebliche Gefahr für Suchtverhalten befürchten. Entgegen diesen Warnungen bestehen Mark Zuckerberg und Elon Musk auf weniger Sicherheitsmaßnahmen für deren Bots. Das Resultat: Zuckerberg’s Prototyp trieb das Gespräch in Richtung Kinderpornographie, während Musk’s Bot jüdische Menschen verunglimpfte und Hitler pries.
Nichtsdestotrotz scheint KI die unausweichliche Zukunft für die europäische Wirtschaft. Die Annahme ist, dass KI der notwendige technische Fortschritt ist, um wieder stabiles Wachstum in Europa zu erreichen. Dieser Fokus auf Technologie ist inhärent in den einflussreichsten neoklassischen und (ironischerweise) marxistischen Modellen, als technologischer Fortschritt oder als Revolutionierung der Produktionsmittel. Doch was sagen die Daten? Nehmen wir kumulative Daten: seit dreißig Jahren übersteigt das Investitionswachstum in Digitalisierung in den meisten Jahren um das Fünffache die Investitionen in anderes Kapital. Dies sind dreißig Jahre in denen Westeuropa die historisch niedrigsten Wachstumszahlen aufwies. Anstatt sich also ausschließlich auf Technologie zu verlassen, würde ein (post-)keynesianisches Wachstumsmodell ein Auge auf die Nachfrageseite werfen. Solange es keine effektive Nachfrage gibt, wird kein Eigentümer investieren, und wir werden kein Wachstum sehen. Die kumulativen Daten zeigen: dreißig Jahre Wachstumsschlappe fallen zusammen mit stagnierenden Reallöhnen (ca. 1% pro Jahr) und wachsender Einkommensungleichheit. Dabei dürfen wir auch nicht vergessen, dass das Rückgrat der westeuropäischen Wirtschaft die verarbeitende Industrie ist – die historisch gute gewerkschaftlich erkämpfte Löhne vorweist – die um das Doppelte und in Deutschland um das 3,5‑fache die Wertschöpfung des gesamten Kommunikationstechnologiesektor übersteigt.


Polit-Ökonomische Verstrickungen
Der Tech-Sektor kann jedoch höchst profitabel sein. Die Plattform-Giganten des Silicon Valley zählen zu den wichtigsten Unternehmen auf den internationalen Finanzmärkten (Meta etwa übersteigt den Wert von Saudi Aramco!) Es sind die Skaleneffekte der Plattformökonomie, die es diesen Unternehmen erlaubt hat, Teil der globalen sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur zu werden – mit Hilfe von laxer Regulierung und der Entwicklung des Internets durch den US-Staat. Diese Verflechtung von Staat und Tech-Giganten ist nochmal enger in Zeiten von KI. Dabei sind die Interessen auch politisch. Bei der Amtseinführung 2025 haben die Tech-Mogule – u.a. Zuckerberg, Musk, Bezos, Thiel – Trump den Hof gemacht. Fern von reinem geschäftlichen Opportunismus, haben diese Unternehmer die Initiative ergriffen in ihren eigenen Unternehmen anti-patriarchale und anti-rassistische Fortschritte wieder abzuwickeln. In der Entwicklung von KI und Chatbots sehen wir das in der Nachlässigkeit, die in den Modellen zur Reproduktion von sexistischen und rassistischen Vorurteilen führt. Diese politische Treue der Silicon Valley Unternehmen wird begleitet von millionenschweren Staatsverträgen, um Massendeportationen durchzuführen und tödlichere Waffen für amerikanische Kriege zu entwickeln.
Sollte Europa sich dann nicht so weit wie möglich von den amerikanischen Verhältnissen unabhängig machen? Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Der AI Act der EU macht da zwar schon einen wichtigen Schritt. Jedoch ist da zum einen der Druck der großen Unternehmen, den AI Act für zwei Jahre auszusetzen. Dies würde diesen Unternehmen erlauben direkt amerikanische KI zu nutzen, ohne auf sicherere oder europäische KI-Programme zu warten. Zum anderen ist da der Druck von Trump, der einen Freifahrtschein für sein Silicon Valley forciert. Dies würde amerikanische Produkte als Basis europäische KI-Infrastruktur etablieren: die Grundlage, um Profite auf Kosten europäischer Unternehmen zu machen und um einen weiteren machtpolitischen Hebel für amerikanische Geopolitik in Europa zu erlangen
Mit diesem doppelten Druck ist es ratsam eine Spezialisierungsstrategie zu verfolgen, anstatt amerikanischen Unternehmen hinterherzurennen. Die Privilegierung von Technologieentwicklung, die auf die europäische verarbeitende Industrie spezialisiert ist, wäre ein erster Schritt. Dies kann weiter gefördert werden durch hohe Regulationsstandards in diesen Sektoren, um sich vor Konkurrenz mit niedrigeren Standards aus den USA zu schützen. Ein Schub für die europäische Industrie – anstatt von Social Media und amerikanischer KI – ist der beste Weg für Wachstum mit Lohnsteigerungen und unter gewerkschaftlicher Kontrolle.
Eine frühere Fassung dieses Beitrags in englischer Sprache ist im Marxist sociology blog erschienen.
Kurz zusammengefasst
KI-Bots weisen eine fragwürdige Tendenz auf, soziale Interaktionen zu vedinglichen und daraus Profite zu schlagen. Oft wird angenommen, dass die KI für weiteren technischen Fortschritt unabdingbar ist – und in den letzten Jahrzehnten wuchsen die Investitionen in die Digitalisierung erheblich schneller als in anderes Kapital. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage war zugleich schwach und die Ungleichheit stieg an. Politökonomisch führt die Bedeutung der Tech-Konzerne zu einer enormen Machtkonzentration und zu einer geopolitischen Abhängigkeit Europas. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wäre eine europäische Spezialisierungsstrategie zur Technologieentwicklung zugunsten der heimischen verarbeitenden Industrie und unter Involvierung der Gewerkschaften ein wichtiger Schritt.