In Deutschland wird das BIP-Wachstum überbewertet. Kürzere Arbeitszeiten können Beschäftigung sichern, Geschlechterungleichheit abbauen, ökologische Nachhaltigkeit fördern und die Lebensqualität der Menschen verbessern.
er Bundeskanzler wünscht sich, dass in Deutschland alle wieder mehr und effizienter arbeiten. Eine Vier-Tage-Woche und sogar Work-Life-Balance schließt er kategorisch aus. Carsten Linnemann (CDU) sagt bei Miosga das Kleingedruckte laut, Rentner*innen sollen wieder in die Schar der abhängig Beschäftigten zurückkehren. Beim Juniorpartner der Regierungskoalition behauptet Hubertus Heil (SPD), niemand Vernünftiges wolle eine Vier-Tage-Woche und Bärbel Bas (SPD) würde gerne mehr Mütter in Vollzeitbeschäftigung sehen. Da scheinen sich ja alle einig zu sein – auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW).
Eine gerade veröffentlichte Studie von Jan Behringer, Till van Treeck und Zarah Westrich offenbart aber einen gegenteiligen Wunsch bei der deutschen Bevölkerung – parteiübergreifend. Die Ergebnisse der 4‑Tage-Woche-Pilotstudie der Universität Münster unterstreichen diesen Wunsch.
Liegen wir alle falsch? Ein Gespräch mit Till van Treeck.
Noah Hildebrandt: Hallo Herr van Treeck. Deutschland verzeichnet gerade ein leicht negatives Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Ist das wirklich so schlimm wie es von Neoliberalen und Konservativen dargestellt wird?
Till van Treeck: In der öffentlichen Debatte ist es nach meiner Wahrnehmung oft so, dass das Ziel eines möglichst hohen Wachstums des Bruttoinlandsprodukts als gegeben angesehen wird. Es wird aber oft gar nicht weiter begründet.
Fragt man dann, was Gründe für die Forderung nach einem hohen Bruttoinlandsprodukt sind, dann kommt sicherlich an erster Stelle, dass ein hohes BIP mit dem allgemeinen Wohlbefinden der Bevölkerung zusammenhängt.
Der Autor

Noah Hildebrandt studiert derzeit im Masterstudium Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen. Er ist Chefredakteur und Geschäftsführer des „kaffeeundkippen magazins“ und arbeitet derzeit als Praktikant im Politikressort des „Freitag“. Zuvor war er Hospitant beim ZEIT-WISSEN-Magazin sowie Redakteur und Moderator bei Radio Q der Universität Münster.
Der Interviewpartner
Ein in den Sozialwissenschaften bekanntes, aber in der öffentlichen Debatte häufig übersehenes Konzept ist das Easterlin-Paradox. Das besagt, dass in den reichen Ländern Personen mit einem hohen Einkommen im Durchschnitt mit ihrem Leben zufriedener sind als Personen mit einem geringen Einkommen. Wenn aber die die durchschnittlichen Einkommen weiter steigen – also das Bruttoinlandsprodukt steigt – ergibt sich kein durchschnittlicher Anstieg der Zufriedenheit in der Gesellschaft. Viel mehr legt das Paradox nahe, dass mehr Freizeit die Menschen glücklicher machen würde als mehr Güter und Dienstleistungen zu produzieren.
Insofern würde ich sagen, dass man das Ziel eines hohen oder steigenden Bruttoinlandsprodukts erstmal kritisch hinterfragen kann.
Es gibt natürlich noch weitere Gründe, warum ein hohes Bruttoinlandsprodukt wichtig erscheint. Gerade in den aktuellen Zeiten reden wir viel über geopolitische und militärische Konflikte, in denen technologische Dominanz eine übergeordnete Rolle spielt. Und da kann man natürlich sagen, dass es vielleicht schlecht ist, wenn ein Land zurückfällt gegenüber anderen Ländern.
Bei einem so reichen Land wie Deutschland oder auch bei einem sehr reichen Kontinent wie Europa, bedeutet ein geringeres BIP-Wachstum oder ein geringeres BIP im Vergleich zu anderen Weltregionen nicht unbedingt sofort, dass man geopolitisch zurückfällt.
Noah Hildebrandt: Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung ist ja nicht neu. Die geht schon auf Keynes zurück. Seine Erwartung des Zeitalters der Freizeit und des Überflusses mit 15 Arbeitsstunden pro Woche ist aber nicht eingetreten. Stattdessen sehen wir gerade, dass die neue Bundesregierung im Koalitionsprogramm vorsieht, die maximale tägliche Arbeitszeit nicht mehr zu regulieren – lediglich die Wochenarbeitszeit wird bei 48 Stunden beschränkt. Dementsprechend ist gerade die politische Marschrichtung eher in Richtung Liberalisierung der Arbeitszeitgesetze, mit der Begründung, dass wir vor einer Rezession stehen und die Wirtschaft genau das erfordere.
Inwiefern könnte eine Arbeitszeitverkürzung bei einer drohenden Rezession funktionieren, wenn es in der öffentlichen Debatte eigentlich immer als dysfunktional dargestellt wird?
Till van Treeck: Zunächst mal ist ja eine Politik der Arbeitszeitverkürzung in der Wirtschaftsgeschichte häufig sogar als Option diskutiert worden, um Beschäftigung bei schwachem BIP-Wachstum zu sichern. Wenn die Arbeitsproduktivität steigt und das BIP stagniert, weil die Produktion insgesamt nicht ansteigt, dann droht eine Freisetzung von Arbeitskräften und steigende Arbeitslosigkeit. Die Gewerkschaften, aber auch Regierungen, haben in der Vergangenheit immer wieder auch Verkürzungen der Wochenarbeitszeit als Instrument der Beschäftigungssicherung diskutiert.
Insofern sehe ich hier überhaupt keinen Widerspruch zwischen einer beschäftigungssichernden Wirkung von kürzeren Arbeitszeiten. Wenn zum Beispiel die Automobilindustrie in Deutschland in den nächsten Jahren schrumpft und nicht mehr mehrere Millionen Beschäftigte an der Automobilindustrie hängen, dann könnten kürzere Arbeitszeiten eine Möglichkeit sein, Beschäftigung in dieser Branche zu sichern.
Noah Hildebrandt: Wenn in Zeiten der Rezession die Kurzarbeit als staatliche Maßnahme funktioniert, dann müsste es ja auch möglich sein, genau diese fiskalpolitischen Gelder außerhalb von Rezessionen freizusetzen. Was spricht dagegen?
Till van Treeck: Eine strukturelle Verkürzung der Arbeitszeit käme sicherlich auch ohne fiskalische Unterstützung aus. Die Tendenz zu kürzeren Arbeitszeiten ist ein typisches Muster ist in der Wirtschaftsgeschichte und der angeschlossenen öffentlichen Debatte. Wenn die 4‑Tage-Woche als Möglichkeit ins Gespräch gebracht wird, dann wird oft gesagt, dass das unrealistisch sei und so die kapitalistische Marktwirtschaft nicht funktionieren kann. Dann geht es um die Wettbewerbsfähigkeit. Wenn man aber zurückblickt, wird wohl kaum jemand diese Argumente heutzutage gegen die 7- oder 6‑Tage-Woche ins Feld führen. Das ist heute allgemein gesellschaftlich anerkannt.
Diese Übergänge, hin zu kürzeren Arbeitszeiten, waren mit keiner Ausweitung der Staatsverschuldung oder mit dauerhaften fiskalischen Transfers verbunden. Viel mehr wurde die Arbeitszeitverkürzung letztlich aus dem Anstieg der Arbeitsproduktivität finanziert. Für mich ist diese Diskussion unabhängig von Fiskalpolitik und Schuldenbremse zu führen.
Noah Hildebrandt: Gehen wir einmal davon aus, dass eine 4‑Tage-Woche flächendeckend realisiert wird. Wie wahrscheinlich ist es dann, dass die Unternehmen nicht einfach ihre Mark-Ups erhöhen und so eine Inflation verursachen, die dann wiederum eine Ausweitung der Arbeitszeit wieder erzwingen würden?
Till van Treeck: Ich denke, dass man natürlich nicht übertreiben darf und es problematisch ist, wenn die Verkürzung der Arbeitszeit deutlich über das Produktivitätswachstum hinausgeht. Aber in Bezug auf die Arbeitszeit gilt das gleiche, was immer als produktivitätsorientierte Lohnpolitik diskutiert wird: Es gibt einen Verteilungsspielraum in der Lohnpolitik und der ergibt sich aus der mittelfristigen Inflation und dem Produktivitätswachstum. Wenn die Löhne jedes Jahr so stark steigen wie die Preise – also 2% Inflationsziel plus das Wachstum der Stundenproduktivität – dann bleiben die Mark-Ups der Unternehmen und die Verteilung der gesamtwirtschaftlichen Einkommen zwischen Löhnen und Gewinnen konstant.
Die Beschäftigten können sich aber im Prinzip überlegen: Wollen sie das Produktivitätswachstum in Form von höheren Monatsverdiensten oder in Form von kürzeren Arbeitszeiten ausgezahlt bekommen. Gehen wir hier produktivitätsorientiert vor: Wenn wir die Produktivität als Verteilungsspielraum ansehen, dann sehe ich keine Gefahr, dass durch kürzere Arbeitszeiten Lohn-Preisspiralen ausgelöst werden oder es zu vermehrter Inflation kommt. Man kann sicherlich auch über Umverteilungselemente sprechen, das wäre aus meiner Sicht auch verkraftbar…
Noah Hildebrandt: Sie hatten eben gesagt, dass eine Einführung der 4‑Tage-Woche wohl kein gesamtgesellschaftliches Produktivitätswachstum verursachen würde, sondern wir wahrscheinlich eher in eine Art De-Growth reinrutschen würden. Die theoretische Folge einer Arbeitszeitverkürzung ist der Rückgang des Statuskampfs um positionale Güter, sodass die Freizeit mit weniger CO2-intensiven Freizeitbeschäftigung verbracht wird. Nun hat die Pilotstudie von Backmann et al. aber gezeigt, dass bei der 4‑Tage-Woche die Zahl der individuellen Inlandsreisen doch signifikant zugenommen hat.
Wie erklären Sie sich da die Abweichungen der Pilotstudie von der Theorie und auch von vergleichbaren Studien aus anderen Industrieländern?
Till van Treeck: Ich glaube, dass kürzere Arbeitszeiten zwar eine notwendige, aber sicher keine hinreichende Bedingung sind, um ökologisch nachhaltigere Lebensstile zu kultivieren. Wenn das Wochenende immer schon am frühen Donnerstagabend beginnt und die Menschen sich dann immer am Donnerstagabend in den Flieger setzen und viertägige Städtereisen machen, dann wäre das natürlich ökologisch schädlich. Aber es müssen ja sowieso ökologisch nachhaltigere Lebensstile entwickelt werden. Das viele Fliegen wird in Zukunft nicht mehr gehen. Auch der motorisierte Individualverkehr wird in dem Ausmaß wie jetzt nicht mehr möglich sein.
Kürzere Arbeitszeiten können da die Abstriche kompensieren, die man in insbesondere in der Mobilität machen muss. Wenn der Stress, den man im Beruf hat, zurückgeht, dann steigt vielleicht auch die Bereitschaft oder die Muße, langsamer zu reisen und langsamer zu essen – also Fast Food ist ja auch nicht ökologisch vorteilhaft. Es bleibt dann einfach mehr Zeit dafür, selbst zu kochen oder mit dem Fahrrad oder dem Zug in den Urlaub zu fahren.
Und was das ganze Thema De-Growth angeht: Ich find den Begriff problematisch, weil er suggeriert, dass er mit so großem Verzicht verbunden ist. Ich glaube eher, dass diese Debatte um kürzere Arbeitszeiten uns als Gesellschaft kreativ machen. Wir müssen gemeinsam die Frage beantworten, wie wir ein gutes Leben ermöglichen können. Und Freizeit ist da ein ganz wichtiger Bestandteil von einem guten Leben. Das muss aber keine oder nur weniger Abstriche im materiellen Lebensstandard bedeuten. Zum Beispiel durch einen Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs, die Verbesserung des Schienenverkehrs, neue kollektiver Formen der Mobilität. Das wären ja Möglichkeiten, mit geringerem Ressourcenverbrauch, aber auch insgesamt mit geringerem Arbeitsvolumen die Mobilität zu sichern. Wir haben mittlerweile 50 Millionen PKWs auf deutschen Straßen und alle paar Jahre kaufen sich die deutschen neue Autos. Das wird häufig auch damit gerechtfertigt oder für notwendig erklärt, die Beschäftigung in der Automobilindustrie zu sichern.
Meine Güte, wenn die Beschäftigung in der Automobilindustrie zurückgeht, aber das insgesamt ermöglicht, dass die Menschen mehr Freizeit haben, dann kann man auch ein Mobilitätssystem aufbauen, das weniger Arbeitszeit und weniger Ressourcen erfordert – nämlich öffentlicher Personennahverkehr – der eben dann den gleichen materiellen Lebensstandard ermöglicht wie vorher, nur eben mit kürzerer Arbeitszeit.
Also wie gesagt: Kürzere Arbeitszeiten sind kein Allheilmittel und führen nicht sofort zu ökologischer Nachhaltigkeit. Aber ich glaube, kürzere Arbeitszeiten ermöglichen viele neue Formen des Zusammenlebens und der Freizeitgestaltung, die die ökologische Nachhaltigkeit befördern können.
Noah Hildebrandt: Seit Jahren steigt in Deutschland die Einkommensungleichheit. Bei steigender Einkommensungleichheit steigt laut Studien die pro-Kopf-Arbeitszeit. Obwohl sich eine Mehrheit der Angestellten eine Reduktion ihrer Arbeitsstunden auch unter Lohnverzicht wünscht, sind die gearbeiteten Stunden in Deutschland zumindest stagnierend und tendenziell auch in vielen Branchen steigend. Gerade junge Menschen wünschen sich Ihrer Studie zufolge eine kollektive, statt einer individuellen Arbeitszeitverkürzung. Bei der kollektiven Verkürzung sind die institutionellen Hürden einleuchten. Aber welche Hürden bestehen bei der individuellen Arbeitszeitverkürzung, warum reicht die Motivation, es zu wollen, zur Verkürzung gar nicht aus?
Till van Treeck: Seit vielen Jahren fragt das sozioökonomische Panel (SOEP) die Beschäftigten, wie lange sie gerne arbeiten würden, wenn sie ihre Arbeitszeit frei wählen könnten – auch unter Berücksichtigung möglicher künftiger Lohneinbußen. Die Ergebnisse des SOEP zeigen, dass in den letzten Jahren im Durchschnitt die Beschäftigten gerne vier Stunden weniger arbeiten wollen würden. Bei Frauen ist das etwas weniger. Das bedeutet, dass bei Frauen die subjektiv wahrgenommene Überbeschäftigung etwas geringer ist als bei Männern. Vor allem gutverdienende Männer wünschen sich bis zu 7 Stunden Reduktion ihrer Arbeitszeit.
Da stellt sich dann natürlich die Frage, warum die Befragten ihre Arbeitszeit nicht reduzieren, wenn sie sich das auch ohne Lohnausgleich wünschen. Da finden wir einige Hinweise in den repräsentativen Befragungen, die wir selbst durchgeführt haben: Der Wunsch, kürzer zu arbeiten und auch die tatsächliche Bereitschaft, die Arbeitszeit zu reduzieren, sind stärker, wenn Beschäftigte davon ausgehen können, dass ihre Kolleg*innen ebenfalls kürzer arbeiten, zum Beispiel im Wettkampf um Beförderungen. Da wird dann häufig entgegen dem Reduktionswunsch gehandelt.
Und hier wäre auch die Tarifpolitik ein ganz naheliegendes Instrument. Nun ist es so, dass die Tarifbindung in Deutschland mittlerweile nur noch 50% ist. Vor 20 bis 25 Jahren lag dieser Anteil noch bei 80%. Das heißt, die Fähigkeit zum kollektiven Handeln, ist in Deutschland sehr viel schlechter geworden. Und das ist einer der zentralen Gründe, weshalb die Arbeitszeiten nicht verkürzt werden.
Ein weiterer Aspekt ist die Einkommensungleichheit. Wenn die Einkommensungleichheit steigt, dann ist vor allem für diejenigen schmerzhaft, deren relative Einkommen sinken. Wenn Sie zur Mittelschicht gehören und ihre Einkommen nicht gestiegen sind, müssen Sie jetzt überlegen: Entweder sie schicken Ihre Kinder auf die gleichen Schulen wie die Kinder der Reichen. Dann können Sie entweder weniger fürs Alter sparen, müssen sich verschulden oder ihre Arbeitszeit ausweiten.
Oder Sie schicken Ihre Kinder auf schlechtere Schulen als die Kinder der Reichen. Dann müssen Sie aber nicht länger arbeiten, sparen genug fürs Alter und verschulden sich nicht.
Und ja, wir haben in Deutschland ein öffentlich finanziertes Schulsystem. Trotzdem gibt es einen starken Zusammenhang zwischen den Immobilienpreisen oder den Wohnungsmieten und der Qualität der Schulen, die dann im Einzugsgebiet liegen. Und auch das kann dann die Menschen unter Druck setzen, länger zu arbeiten, um der Ungleichheit entgegenzuwirken.
Da bräuchte es dann die öffentliche Daseinsvorsorge. Das mildert auch den Druck ab, lange zu arbeiten, um teilhaben zu können. Wenn es für alle Kinder exzellente Schulen gibt, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern, wenn die Gesundheitsversorgung sehr gut ist, das Rentensystem gut ausgebaut ist, es preiswerten öffentlichen Personennahverkehr gibt, dann sind viele Güter, die für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sehr wichtig sind, aus diesen Statuswettkämpfen oder herausgenommen.
Noah Hildebrandt: Eine Arbeitszeitverkürzung birgt auch Chancen zur Umverteilung, einmal natürlich im Sinne von Einkommen, aber andererseits durch Umverteilung der Sorgearbeit zwischen Männern und Frauen oder zwischen Lebenspartner*innen. Wie funktioniert beides über eine Arbeitszeitverkürzung?
Till van Treeck: Wenn man noch mal in die Wirtschaftsgeschichte zurückschaut, vor 100 Jahren, da war es so, dass Personen mit niedrigen Stundenlöhnen länger gearbeitet haben als Personen mit hohen. Das hat sich aber gedreht: Heute ist es so, dass Personen, die einen geringen Stundenlohn haben, häufig geringfügig oder in Teilzeit beschäftigt sind, also relativ kurze Arbeitszeiten haben. Das sind häufig Personen, die eigentlich gerne länger arbeiten würden. Andererseits, Personen mit hohen Stundenlöhnen, Gutverdienende, haben längere Arbeitszeiten. Und die haben laut unseren repräsentativen Befragungen den besonders stark ausgeprägten Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten.
Wenn alle so lange arbeiten würden, wie sie angeben, arbeiten zu wollen, dann würden Personen mit geringen Stundenlöhnen länger arbeiten und Personen mit hohen Stundenlöhnen würden deutlich kürzer arbeiten. Dadurch würde die Einkommensungleichheit zurückgehen, weil eben die Einkommen der aktuell sehr gut verdienenden, die zu lange arbeiten und gerne kürzer arbeiten wollen würden, zurückgehen würden. Die Einkommen derer, die nicht das Gefühl haben, zu lange zu arbeiten, würden zeitgleich aber nicht zurückgehen, weil sie ihre Arbeitszeiten nicht reduzieren würden.
Was man auch beobachtet, ist, dass Männer länger bezahlt arbeiten als Frauen. Wenn man aber bezahlte und unbezahlte Arbeit zusammennimmt, dann arbeiten Männer und Frauen ungefähr gleich viel, weil eben Frauen mehr unbezahlte Sorgearbeit leisten.
Wenn vor allem die Männer kürzer arbeiten würden, würde die Geschlechterungleichheit bei den Verdiensten ebenfalls zurückgehen. Und ich denke, da haben wir auch eine ganz wichtige gesellschaftliche Debatte zu führen. Wenn Sie zum Beispiel die Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung lesen, wird als gesellschaftliches Leitbild formuliert, dass die Zeit, die Eltern in der Familie für Kinderbetreuung verbringen müssen möglichst weit reduziert wird. Damit Frauen länger arbeiten können, damit Geschlechtergleichheit, Geschlechtergerechtigkeit letztlich, hergestellt wird und die Karrierechancen von Frauen sich im Vergleich zu Männern verbessern. Aktuell haben sie häufig die Situation, dass es selbst mit sehr guter Ausbildung für Frauen schwerer ist Karriere zu machen, wenn sie nur Teilzeit arbeiten können und die männlichen Konkurrenten um betriebsinterne Karriereoptionen fünf Tage und im Zweifel auch 50 Stunden die Woche arbeiten.
Da kann man dann einerseits sagen: Ja, hier müssen wir Geschlechtergerechtigkeit herstellen, indem man die Kinderbetreuung verbessert und das Ehegattensplitting abschafft, um Frauen Anreize zu geben, länger zu arbeiten. Aber man kann natürlich auch die Karriere Perspektiven von Frauen dadurch verbessern, dass Männer kürzer arbeiten. Und ich denke, dass es aus einer lebensnahen Perspektive, die realistischere Option ist, um den Familien ein glückliches Familienleben zu ermöglichen. Ich sehe jedenfalls nicht, wie man mit zwei Vollzeitjobs halbwegs stressfrei und ausgeglichen Kinder erziehen soll. Das heißt: Kürzere Arbeitszeiten, insbesondere für Männer, würden die Geschlechterungleichheit in der Erwerbsarbeit reduzieren und sind eben auch die Voraussetzungen dafür, dass Männer mehr unbezahlt arbeiten können und die Ungleichheit bei der Sorgearbeit verringert würde.
Ich sehe hier auch gar nicht so sehr einen Grabenkampf zwischen neoliberalen Perspektiven und linken, sozialdemokratischen oder sozialistischen Perspektiven. Die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit wird sicherlich von fast allen politischen Lagern begrüßt. Es gibt hier durchaus auch Anknüpfungspunkte konservativen Haltungen. Man kann sagen: „OK, also der Kapitalismus hat sich jetzt schon die Männer für die Erwerbsarbeit aus den Familien rausgeholt und als nächstes nimmt er sich jetzt die Frauen vor.“ Es sollen jetzt nicht nur die Männer, sondern auch noch die Frauen in Vollzeit für Erwerbsarbeit zur Verfügung stehen. Und das kann auch aus konservativer Perspektive abgelehnt werden kann, weil da die Familie einen sehr hohen Stellenwert hat.
Noah Hildebrandt: Schauen wir nochmal die kollektive Seite der Problematik: Auf der Seite der Arbeitnehmer*innen sehen wir also weniger Tarifbindung und auf der anderen Seite mehr Druck durch Arbeitgeberverbände und die politischen Bestrebungen, die Arbeitszeit auszuweiten. In Ihrem Beitrag im Surplus-Magazin haben Sie gefragt, warum eine reiche Gesellschaft solche Rückschritte in der Lebensqualität zulassen sollte, die eine Arbeitszeitausweitung bedeuten würden. Andersherum gefragt: Warum sehen wir gerade, dass mit der Deregulation des Arbeitsmarktes so explizit gegen die Wünsche der Bevölkerung und wissenschaftliche Erkenntnisse wenden?
Till van Treeck: Unsere repräsentativen Befragungen zeigen, dass etwa 70% der Beschäftigten für eine 4‑Tage-Woche in Deutschland wären, auch ohne Lohnausgleich. Das heißt nicht unbedingt, dass die Einkommen sinken würden. Viel mehr heißt das, dass künftige Produktivitätsfortschritte nicht mehr in dem gewohnten Maße zu höheren Einkommen führen, sondern in erster Linie zu mehr Freizeit.
Und warum wird das nicht gemacht, wenn das gewünscht ist? Es gibt sicherlich die nicht ganz unberechtigte Sorge, dass wir einen Fachkräftemangel haben. Zusätzlich haben wir auch eine demografische Entwicklung, bei der das Erwerbspersonenpotenzial sinkt. Es gibt also immer weniger – und wird auch in Zukunft weniger – Personen im erwerbsfähigen Alter geben. Deswegen sind die Arbeitgebenden darum besorgt, dass der Produktionsstandort Deutschland negativ beeinträchtigt werden könnte. Und generell kann man sicherlich sagen, dass Arbeitgebende immer ein Interesse an eher langen Arbeitszeiten haben. Aber die Wirtschaft ist eigentlich nicht dafür da, einzelne Unternehmensinteressen zu befriedigen, sondern, um die Zufriedenheit und die Lebensqualität der Menschen insgesamt zu fördern.
Natürlich scheint es paradox, dass gerade in einer Situation, in der immer mehr Menschen in Rente gehen und relativ wenige junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt nachkommen kürzere Arbeitszeiten gefordert werden. Aber eigentlich wird umgekehrt ein Schuh draus: Nur in einer Situation, in der es Fachkräftemangel gibt oder in der wir Vollbeschäftigung haben, können die Arbeitnehmer*innen realistischerweise darauf hoffen, kürzere Arbeitszeiten durchzusetzen, weil sie dann eine enorm gestärkte Verhandlungsmacht haben. Und jetzt gerade – das sieht man ja auch, wenn man durch die Straßen geht – sieht man überall Stellenangebote. Zum Beispiel in Arztpraxen werden Fachkräfte gesucht, in Friseursalons werden Beschäftigte gesucht. Da sieht man immer häufiger „4‑Tage-Woche möglich“. Kurze Arbeitszeiten sind gerade ein Werbeinstrument von Arbeitgebenden, die um einen begrenzten Pool an Fachkräften konkurrieren. Aus der Hinsicht könnte die Aussicht auf Arbeitszeitverkürzung auch viel schlechter sein.
Es ist in der Wirtschaftsgeschichte nie so gewesen, dass bei hoher Arbeitslosigkeit und hohen Geburtenraten – also bei steigendem Erwerbspersonenpotenzial – Arbeitszeitverkürzungen durchgeführt wurde. Da war die Verhandlungsposition der Beschäftigten eher schlecht, da konnten die Arbeitgebenden lange Arbeitszeiten durchsetzen.
Insofern haben wir hier sicherlich mit einem politischen Konfliktthema zu tun und man muss sich fragen: “Wer hat ein Interesse an längeren Arbeitszeiten? Wer fordert längere Arbeitszeiten? Und welche Maßnahmen werden möglicherweise auch ergriffen, um Beschäftigte davon abzubringen, kürzere Arbeitszeiten zu fordern?”
Noah Hildebrandt: Diese Fragen beantworten wir dann nächstes Mal. Vielen Dank für das Gespräch Herr van Treeck.
Kurz zusammengefasst
Die Politik setzt auf mehr Arbeit und lehnt die 4‑Tage-Woche ab, obwohl eine Mehrheit der Deutschen genau das wünscht. Studien zeigen: Kürzere Arbeitszeiten fördern Zufriedenheit und könnten Beschäftigung sichern, doch Interessen von Arbeitgebern und politische Hürden verhindern die Umsetzung. Arbeitszeitverkürzung bietet darüber hinaus Chancen für mehr Gleichheit zwischen den Geschlechtern und eine höhere Lebensqualität – und sie könnte beim Kampf gegen die Klimakrise helfen.