Steu­er­freie Mehr­ar­beit soll Leis­tung beloh­nen – doch pro­fi­tie­ren vor allem Bes­ser­ver­die­nende. Für viele Beschäf­tigte bedeu­ten die geplan­ten Anreize mehr Belas­tung statt Gerechtigkeit.

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eis­tung muss sich wie­der loh­nen“ ver­kün­dete Bun­des­kanz­ler Fried­rich Merz in sei­ner Regie­rungs­er­klä­rung zum Koali­ti­ons­ver­trag von CDU, CSU und SPD. Dabei sol­len vor allem zwei steu­er­li­che Anreize Mehr­ar­beit för­dern, sie „loh­nend“ machen. Zum einen sol­len Zuschläge für Mehr­ar­beit, die über Voll­zeit­ar­beit1 hin­aus­geht, steu­er­frei gestellt wer­den. Zum ande­ren soll eine Aktiv­rente ermög­li­chen, dass Beschäf­tigte, die nach Errei­chen des gesetz­li­chen Ren­ten­al­ters frei­wil­lig wei­ter­ar­bei­ten, bis zu 2.000 Euro im Monat steu­er­frei hin­zu­ver­die­nen können.

Wer profitiert von den Steuererleichterungen?

Beschäf­tigte mit nied­ri­gen Stun­den­löh­nen arbei­ten im Durch­schnitt kür­zer als sol­che mit höhe­ren Löh­nen (Beck­manns­ha­gen & Schrö­der, 2022). Eine Steu­er­be­frei­ung von Mehr­ar­beits­zu­schlä­gen käme daher vor­aus­sicht­lich vor allem höhe­ren Ein­kom­mens­grup­pen zugute – denn diese arbei­ten häu­fi­ger bereits in Voll­zeit und sind somit eher in der Lage, Mehr­ar­beit über die regu­läre Voll­zeit hin­aus zu leis­ten. Zwar sieht der Koali­ti­ons­ver­trag auch eine steu­er­li­che Ent­las­tung für Teil­zeit­be­schäf­tigte vor, aller­dings in Form einer Steu­er­be­güns­ti­gung für Prä­mien, die Arbeit­ge­ber bei Aus­wei­tung der Arbeits­zeit zah­len. Diese Maß­nahme ist in ihrer Wir­kung jedoch nicht mit einer dau­er­haf­ten Steu­er­frei­heit von Mehr­ar­beits­zu­schlä­gen ver­gleich­bar. Hinzu kommt: Die Mög­lich­keit, die Arbeits­zeit aus­zu­wei­ten, ist nicht für alle Beschäf­tig­ten gege­ben. Beson­ders Frauen sind durch Sor­ge­ar­beit, die sie über­pro­por­tio­nal leis­ten, in ihrer zeit­li­chen Ver­füg­bar­keit ein­ge­schränkt (Lott, 2024). Dar­über hin­aus ist die betrieb­li­che Nach­frage nach zusätz­li­chen Arbeits­stun­den nicht in allen Qua­li­fi­ka­ti­ons- und Berufs­grup­pen vor­han­den. Daher besteht die Gefahr, dass die geplan­ten Steu­er­erleich­te­run­gen an einem Groß­teil der Beschäf­tig­ten – ins­be­son­dere jenen mit gerin­gem Ein­kom­men oder fami­liä­ren Ver­pflich­tun­gen – vorbeigehen.

Die Autorin

Zarah West­rich ist wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin am Insti­tut für Sozio­öko­no­mie der Uni­ver­si­tät Duis­burg-Essen. Ihre For­schungs­schwer­punkte lie­gen in den Berei­chen Arbeit, Zeit­ver­wen­dung und sozio­öko­no­mi­sche Ungleichheit.

Zudem wird, wer kör­per­li­che oder psy­chisch anstren­gende Arbeit ver­rich­tet, wahr­schein­lich weni­ger zusätz­li­che Arbeits­stun­den – über Voll­zeit hin­aus oder nach Ren­ten­ein­tritts­al­ter – arbei­ten wol­len oder kön­nen (Blank & Breh­mer, 2023; Has­sel­horn, & Mül­ler, 2024). Beson­ders kör­per­li­che Anstren­gung ist ungleich über die Stun­den­lohn­grup­pen ver­teilt (Abb. 1) 2 . In den unte­ren Stun­den­lohn­grup­pen ist arbeits­be­dingte kör­per­li­che Erschöp­fung deut­lich stär­ker ver­brei­tet. Auch bei dem Gefühl, durch die Arbeit emo­tio­nal aus­ge­laugt zu sein,  zeigt sich ein ähn­li­cher Zusam­men­hang: Per­so­nen aus den unte­ren Stun­den­lohn­grup­pen sind über­durch­schnitt­lich betrof­fen, wenn­gleich die Ver­tei­lung hier etwas gleich­mä­ßi­ger aus­fällt.  Dem­nach ist das Poten­tial, Mehr­ar­beit zu leis­ten und damit von den im Koali­ti­ons­ver­trag beschrie­be­nen Steu­er­erleich­te­run­gen zu pro­fi­tie­ren, ten­den­zi­ell bei Bes­ser­ver­die­nen­den größer.

Abb. 1: Arbeits­be­dingte Belas­tung – Anteil nach Stundenlohngruppe

Quelle: Beh­rin­ger, van Tre­eck, West­rich (2024), eigene Berechnung.

Ein steuerpolitisches Instrument gegen den Fachkräftemangel?

Zu den Berufs­fel­dern mit dem größ­ten Fachkräftemangel gehö­ren die Gesund­heits- und Sozi­al­be­rufe, Elek­tro­be­rufe sowie Hand­werks­be­rufe (Tie­de­mann, Kunath, Wer­ner, 2024). Es stellt sich also die Frage, ob Steu­er­an­reize in die­sen Beru­fen zu Mehr­ar­beit füh­ren wür­den. Ein Ein­fluss­fak­tor ist hier die erlebte Belas­tung, die unter­schied­lich stark in Bran­chen aus­fällt (Abb. 2). Im Gesund­heits- und Sozi­al­we­sen sowie in der Bran­che Erzie­hung und Unter­richt bei­spiels­weise – Bran­chen, die stark vom Fach­kräf­te­man­gel betrof­fen sind – erlebt ein gro­ßer Anteil der Beschäf­tig­ten sowohl hohe kör­per­li­che als auch hohe emo­tio­nale Belas­tung. Steu­er­li­che Anreize könn­ten daher in die­sen oder ver­gleich­ba­ren Bran­chen zwar finan­zi­elle Anreize schaf­fen, doch ohne ver­bes­serte Arbeits­be­din­gun­gen und Unter­stüt­zungs­sys­teme ist frag­lich, ob sie die Arbeits­zeit tat­säch­lich ausweiten.

Abb. 2: Arbeits­be­dingte Belas­tung – Anteil nach Branche

Quelle: Beh­rin­ger, van Tre­eck, West­rich (2024), eigene Berechnung.

Zudem ist anzu­mer­ken, dass nicht alle Beschäf­tig­ten ihre Über­stun­den bezahlt bekom­men: Etwa 11 Pro­zent geben an, ihre Über­stun­den in der Regel bezahlt zu bekom­men, 21 Pro­zent eine Kom­bi­na­tion aus Bezah­lung und Frei­zeit­aus­gleich. Die Mehr­heit wird vor­wie­gend mit Frei­zeit kom­pen­siert, wäh­rend rund 12 Pro­zent ange­ben, dass ihre Über­stun­den nicht abge­gol­ten wer­den. 3  Eine Steu­er­be­frei­ung von Zuschlä­gen stellt für viele daher kei­nen wirk­sa­men Anreiz dar, da sie in der Pra­xis nicht davon pro­fi­tie­ren würden.

Im Einklang mit den Interessen der Beschäftigten?

2024 wur­den in Deutsch­land mit rund 46 Mil­lio­nen Erwerbs­tä­ti­gen und etwa 61,5 Mil­li­ar­den geleis­te­ten Arbeits­stun­den jeweils Höchst­werte seit der Wie­der­ver­ei­ni­gung erreicht (Beh­rin­ger, van Tre­eck, West­rich, 2025).  Es wird also ins­ge­samt mehr und nicht weni­ger gear­bei­tet, wie häu­fig sug­ge­riert wird. Zwar ist die durch­schnitt­li­che Arbeits­zeit pro erwerbs­tä­ti­ger Per­son gesun­ken, doch lässt sich dies vor allem durch die gestie­gene Erwerbs­be­tei­li­gung von Frauen sowie den Anstieg gering­fü­gi­ger Beschäf­ti­gung erklä­ren (Beh­rin­ger, van Tre­eck, West­rich, 2025).  Zudem liegt die tat­säch­li­che Arbeits­zeit bereits über der gewünsch­ten und der ver­trag­lich ver­ein­bar­ten Arbeits­zeit – viele Men­schen arbei­ten also jetzt schon mehr, als sie möch­ten und ver­trag­lich müss­ten (Abb. 3). Eine Erhö­hung der tat­säch­li­chen Arbeits­zeit liegt dem­nach nicht im Inter­esse eines Groß­teils der Beschäftigten.

Abb. 3: Arbeits­zei­ten 2022

Quelle: SOEPv39, eigene Berechnungen.

Notwendig oder ungerecht?

Steu­er­an­reize für Mehr­ar­beit stel­len folg­lich weder ein wirk­sa­mes Mit­tel gegen den Fach­kräf­te­man­gel noch eine sozial aus­ge­wo­gene Maß­nahme dar. Sie begüns­ti­gen vor allem Bes­ser­ver­die­nende. Gleich­zei­tig zei­gen Umfra­gen, dass viele Beschäf­tigte sich im Schnitt weni­ger statt mehr Arbeits­zeit wün­schen. Mehr­ar­beit ent­spricht also oft nicht den tat­säch­li­chen Bedürf­nis­sen der Beschäf­tig­ten. Mit der Steu­er­frei­heit von Zuschlä­gen ver­zich­ten wir zudem auf poten­zi­elle Steu­er­ein­nah­men – ohne dass ein kla­rer gesell­schaft­li­cher oder wirt­schaft­li­cher Nut­zen erkenn­bar wäre. Im Zusam­men­hang mit der Steu­er­be­frei­ung von Zuschlä­gen für Mehr­ar­beit redu­ziert der oft zitierte Leit­satz „Leis­tung muss sich wie­der loh­nen“ Leis­tung auf bloße Erwerbs­ar­beits­zeit. Doch ist das wirk­lich das Leit­bild, an dem wir unsere Wirt­schafts- und Sozi­al­po­li­tik aus­rich­ten wol­len? Warum soll­ten wir steu­er­po­li­ti­sche Anreize set­zen, die weder not­wen­dig noch sozial gerecht sind?

1 Als Voll­zeit­ar­beit gilt bei tarif­li­chen Rege­lun­gen eine Wochen­ar­beits­zeit von min­des­tens 34 Stun­den, ansons­ten min­des­tens 40 Stun­den.

2 Die Befunde von Abb. 1 und Abb. 2 beru­hen auf einer Online-Befra­gung (Beh­rin­ger, van Tre­eck, West­rich, 2024). Die Online-Befra­gung (CAWI) wurde vom 1. bis 24. Okto­ber 2024 durch­ge­führt und umfasst Voll­zeit- und Teil­zeit­be­schäf­tigte zwi­schen 18 und 65 Jah­ren in Deutsch­land. Die finale Stich­probe umfasst 5.022 Befragte. Die Erhe­bung ist reprä­sen­ta­tiv in Bezug auf Alter, Geschlecht, Bun­des­land, Voll- oder Teil­zeit­be­schäf­ti­gung und Haus­halts­net­to­ein­kom­men.

3 Eigene Berech­nung basie­rend auf dem Sozio-öko­no­mi­schen Panel für das Jahr 2022 (SOEPv39).

Beck­manns­ha­gen, M., & Schrö­der, C. (2022). Ent­wick­lung der Arbeits­zei­ten treibt die Ungleich­heit der Erwerbs­ein­kom­men. DIW Wochen­be­richt, 89(33/34), 427–434.

Beh­rin­ger, J., van Tre­eck, T., & West­rich, Z. (2025). Deutsch­lands Beschäf­tigte wün­schen sich kür­zere Arbeits­zei­ten. ifso expertise.

Beh­rin­ger, J., Van Tre­eck, T., & West­rich, Z. (2024). Befra­gung: Ungleich­heit und Arbeit in Deutschland.

Blank, F., & Breh­mer, W. (2023). Durch­hal­ten bis zur Rente? Ein­schät­zun­gen von Beschäf­tig­ten, Betriebs-und Per­so­nal­rä­ten (No. 85). WSI Report.

Has­sel­horn, H. M., & Mül­ler, B. H. (2024). (Noch) län­ger arbei­ten bei schwe­rer kör­per­li­cher Tätig­keit? – Impulse von der lidA-Stu­die. Sicher ist Sicher, 9, 394–398.

Lott, Y. (2024). Alles beim Alten: Der Gen­der Care Gap in der Erwerbs­be­völ­ke­rung. WSI Policy Brief.

SOEPv39. (2024). Socio-Eco­no­mic Panel, data from 1984–2022, (SOEP-Core, v39eu, EU Edi­tion). Deut­sches Insti­tut Für Wirt­schafts­for­schung (DIW Ber­lin) (Ver­sion v39) [CSV,SPSS,Stata (bilingual),SPSS,RData,RData]. SOEP Socio-Eco­no­mic Panel Study. https://doi.org/10.5684/SOEP.CORE.V39EU

Tie­de­mann, J., Kunath, G., & Wer­ner, D. (2024). Drin­gend gesucht-In die­sen Beru­fen feh­len aktu­ell die meis­ten Fach­kräfte. IW-Kurzbericht.

Die­ser Bei­trag wurde zunächst auf spw.de veröffentlicht.

Kurz zusammengefasst

Bun­des­kanz­ler Fried­rich Merz will mit steu­er­freien Zuschlä­gen für Mehr­ar­beit und einer Aktiv­rente Anreize schaf­fen, län­ger zu arbei­ten. Doch von die­sen Maß­nah­men pro­fi­tie­ren vor allem Bes­ser­ver­die­nende, da sie häu­fi­ger in Voll­zeit arbei­ten und mehr Mehr­ar­beit leis­ten kön­nen. Beschäf­tigte mit nied­ri­gen Ein­kom­men, hoher kör­per­li­cher oder psy­chi­scher Belas­tung und fami­liä­ren Ver­pflich­tun­gen gehen weit­ge­hend leer aus. In Bran­chen mit Fach­kräf­te­man­gel, etwa Pflege oder Hand­werk, sind zusätz­li­che Arbeits­stun­den wegen hoher Belas­tung kaum rea­lis­tisch. Zudem wol­len viele Beschäf­tigte ohne­hin weni­ger arbei­ten. Steu­er­li­che Anreize für Mehr­ar­beit sind daher weder wirk­sam noch sozial gerecht.