Inter­sek­tio­nale Grup­pen­un­ter­schiede ver­fes­ti­gen sozio­öko­no­mi­sche Ungleich­hei­ten. Das macht eine Fokus­sie­rung auf ein Durch­schnitts­in­di­vi­duum bei der Lebens­stan­dard­mes­sung fraglich.

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en Lebens­stan­dard von Bürger*innen eines Lan­des allein anhand öko­no­mi­scher Kenn­zah­len wie bei­spiels­weise dem BIP (siehe IfSo-Blog Ein­trag vom 17. August 2023) fest­zu­ma­chen, ist aus Sicht der „stra­ti­fi­ca­tion eco­no­mics“ abzu­leh­nen. Das allei­nige Nut­zen die­ser Kenn­zah­len lässt inter­sek­tio­nale/sozioökonomische1 Ungleich­hei­ten eines Lan­des völ­lig unbetrachtet.

Dabei geht die „stra­ti­fi­ca­tion eco­no­mics“ grund­sätz­lich davon aus, dass jedes Indi­vi­duum sich inner­halb einer sozia­len Gruppe befin­det und sich mit die­ser iden­ti­fi­ziert und die Posi­tion inner­halb der Gruppe als Ver­gleichs- und Allein­stel­lungs­merk­mal inter­pre­tiert. Ange­wen­det auf die „Black-White dicho­tomy“ (Darity Jr. 2022: 403f.) in den USA, bedeu­tet dies, dass Per­so­nen aus der einen Gruppe sich einer­seits mit der Gruppe der „eth­nic others“ ver­glei­chen und dem­entspre­chend abgren­zen kön­nen. Ande­rer­seits gibt es auch inner­halb der eige­nen sozia­len Gruppe diese Vergleiche.

„Stratification economics“ – eine Unbekannte in Deutschland

In den USA bil­det die Dis­zi­plin der „stra­ti­fi­ca­tion eco­no­mics“ ein immer grö­ße­res For­schungs­feld (vgl. Chelwa/Hamilton/Stewart 2022: 377ff.), in der deutsch­spra­chi­gen For­schungs­land­schaft dage­gen bleibt diese bis­her eine weit­ge­hend Unbe­kannte. Basie­rend auf dem Arti­kel „Posi­tion and Pos­ses­si­ons: Stra­ti­fi­ca­tion Eco­no­mics and Inter­group Ine­qua­lity“ aus dem Jour­nal of Eco­no­mic Lite­ra­ture 60(2) von Wil­liam A. Darity Jr., selbst Grün­der der Dis­zi­plin der „stra­ti­fi­ca­tion eco­no­mics“ im Jahre 2005, soll im fol­gen­den die­ses For­schung­feld umris­sen werden.

Die Abkehr von neoklassischen Erklärungen für Ungleichheit

Aus­ge­hend von der „Black-White dicho­tomy“ (Darity Jr. 2022: 403f.) in den USA ver­sucht die For­schungs­dis­zi­plin auf­zu­zei­gen, dass gesell­schaft­li­che Ungleich­hei­ten zwi­schen ver­schie­de­nen sozia­len Grup­pen (nicht nur in den USA) durch Aus­beu­tung und unglei­che inter­ge­ne­ra­tio­nale Über­tra­gun­gen von mone­tä­ren Res­sour­cen und macht­po­li­ti­schen Vor­tei­len (vgl. Darity Jr. 2022: 401ff.) entstehen.

Dabei zeigt die Dis­zi­plin die Unfä­hig­keit neo­klas­si­scher Wirt­schafts­theo­rien, eine kohä­rente Erklä­rung für das Fort­be­stehen sozio­öko­no­mi­scher Ungleich­hei­ten zwi­schen sozia­len Grup­pen, die über die Human­ka­pi­tal­de­fi­zit­mo­delle hin­aus­ge­hen, auf. Obwohl das Stan­dard­mo­dell der neo­klas­si­schen Wirt­schafts­theo­rie aner­kennt, dass es kurz­fris­tig zu Dis­kri­mi­nie­run­gen mar­gi­na­li­sier­ter Bevöl­ke­rungs­grup­pen kom­men kann, wird immer davon aus­ge­gan­gen, dass die Markt­kräfte sol­che Ungleich­hei­ten besei­ti­gen wer­den (vgl. Chelwa/Hamilton/Stewart 2022: 377f.). Kon­trär dazu zei­gen die stra­ti­fi­ca­tion eco­no­mics, dass Marktk­täfte diese Ungleich­hei­ten his­to­risch eben nicht besei­tigt haben.

Blickt man auf die Ver­mö­gens­ver­tei­lung in den USA, wird offen­sicht­lich, dass die oft ange­führ­ten „Markt­kräfte“ bis­her für keine Min­de­rung öko­no­mi­scher Ungleich­heit sor­gen konn­ten. Im Jahr 2020 bezif­ferte sich das durch­schnitt­li­che Net­to­ver­mö­gen des obers­ten Quin­tils der „White house­holds“ auf über 1,5 Mil­lio­nen Dol­lar, wäh­rend es im ent­spre­chen­den Quin­til der „Black wealth dis­tri­bu­tion“ ledig­lich 300.000 Dol­lar betrug (Darity Jr. 2022: 411). Dies ver­deut­licht, warum sich die „stra­ti­fi­ca­tion eco­no­mics“ von neo­klas­si­schen Erklä­rungs­an­sät­zen abwen­det und statt­des­sen ver­sucht, die bestehende Ungleich­heit auf mehr­di­men­sio­nale Weise zu erklären.

Der Autor

Moritz Heinmöl­ler stu­diert im MA Sozio­öko­no­mie am Insti­tut für Sozio­öko­no­mie der Uni­ver­si­tät Duisburg-Essen.

Rassismus und Angst vor anderen als Erfolgsstrategie?

Dabei sei das his­to­ri­sche Phä­no­men zu erken­nen, dass soge­nannte „domi­nante“ (laut Darity Jr. bspw. die weiße Ober­schicht in den USA) soziale Grup­pen die Benach­tei­li­gung ande­rer sozia­ler Grup­pen durch strikte Abgren­zun­gen nach außen ver­su­chen zu „sichern“. Mit ande­ren Grup­pen sind bei­spiels­weise eth­ni­sche Min­der­hei­ten gemeint (Darity Jr. 2022). Darity Jr. zeigt wei­ter­ge­hend auf, dass der his­to­ri­sche Ras­sis­mus in den USA gegen­über den „racial/ethnic other“ für die domi­nante Gruppe sich als wirk­sam, funk­tio­nal und effi­zi­ent für deren Macht­si­che­rung und ‑aus­bau erwie­sen hat. Hier­bei führt er das Phä­no­men an, dass auto­ri­täre und patri­ar­chale (ehe­ma­lige) Staats­ober­häup­ter wie diese Abgren­zung zu den „racial/ethnic other“ zu Nutze machen, um Stim­men der domi­nan­ten sozia­len Grup­pen zu erhalten.

Die Abgren­zun­gen Donald Trumps zu „Black Ame­ri­cans, Latin Ame­ri­cans, immi­grants“ stärk­ten die domi­nan­ten Grup­pen in ihren Über­zeu­gun­gen, auch wirk­lich diese domi­nante Gruppe zu sein. Ver­blüf­fend ist zudem, dass er trotz anti­fe­mi­nis­ti­scher Poli­ti­ken hohe Unter­stüt­zungs­werte bei der Gruppe der „White women“ ver­zeich­nen konnte (Darity Jr. 2022: 404). Darity Jr. führt diese Ent­wick­lung dar­auf zurück, dass die „racial/ethnic iden­tity“ in poli­ti­schen Kon­tex­ten grö­ßer als die der Geschlech­ter­iden­ti­tät sei.

Was kann die Lebensstandardmessung davon lernen?

Das aus­schließ­li­che Nut­zen öko­no­mi­scher Kenn­zah­len als Maß für die Ent­wick­lung und den Stand des Lebens­stan­dards eines Lan­des kann irre­füh­rend sein und ist kri­tisch zu hin­ter­fra­gen. Wird dies auf die Zeit der Skla­ve­rei in den USA oder die Apart­heid in Süd­afrika über­tra­gen, bedeu­tet dies auch, dass diese Aus­beu­tung zum Wachs­tum der Wirt­schaft und folg­lich auch des BIP führte (vgl. Stelzner/Becker 2021; Darity Jr./Mullen 2020: 51ff.; Darity Jr. 2022: 405). Von einem Anstieg/Verbesserung des Lebens­stan­dards der Gesamt­ge­sell­schaft kann hier­bei aber nur kaum gespro­chen wer­den. Auch in Europa sind die Erfolge der indus­tri­el­len Revo­lu­tion bei­spiels­weise in Groß­bri­tan­nien und Frank­reich auf Skla­ven­ar­beit zurück­zu­füh­ren (Darity Jr. 2022: 405).

Mit dem MA Sozio­öko­no­mie bie­tet die Uni­ver­si­tät Duis­burg-Essen seit 2019 einen öko­no­mi­schen Stu­di­en­gang mit einer plu­ra­len, inter­dis­zi­pli­nä­ren und anwen­dungs­ori­en­tier­ten Aus­rich­tung an.

Stu­die­rende aus ganz Deutsch­land kom­men nach Duis­burg, um eine anspruchs­volle metho­di­sche Aus­bil­dung zu ver­bin­den mit einem mul­ti­pa­ra­dig­ma­ti­schen Stu­dium der Öko­no­mie, das zudem wirt­schafts­his­to­risch, sozi­al­phi­lo­so­phisch und polit­öko­no­misch fun­diert ist. Im Fokus der Anwen­dungs­ori­en­tie­rung ste­hen gesell­schaft­li­che Her­aus­for­de­run­gen wie Kli­ma­krise und Ungleich­eit.

Seit 2019 ist so in Duis­burg, im Her­zen der Rhein-Ruhr-Metro­pol­re­gion eine leben­dige Gemein­schaft kri­ti­scher „SozÖk-Stu­die­ren­der“ ent­stan­den. Neu­er­dings kann Sozio­öko­no­mie auch schon im BA als Teil des neuen Stu­di­en­gangs PPE an der Uni­ver­si­tät Duis­burg-Essen stu­diert wer­den. ▸ Mehr erfahren

Sicherheit als Faktor des Lebensstandards

Fer­ner zeig­ten die „stra­ti­fi­ca­tion eco­no­mics“ auf, dass eine hohe Kon­zen­tra­tion der domi­nan­ten Grup­pen in hoheit­li­chen Sicher­heits­or­ga­nen zu stär­ke­ren Repres­sio­nen gegen­über der „racial/ethnic others“ füh­ren und zu einer Min­de­rung des Sicher­heits­ge­fühls bei Kon­takt mit die­sen bei den „racial/ethnic other“ sor­gen kann. So müss­ten bei­spiels­weise Per­so­nen in den USA und Bra­si­lien, wel­che „phe­no­ty­pi­cally White“ sind, bei Begeg­nun­gen mit der Poli­zei weni­ger Sor­gen um ihre Sicher­heit haben, als „all Blacks“ (Darity Jr. 2022: 406). Inter­es­sant ist dabei zudem, dass es inner­halb der Gruppe der „White“ keine signi­fi­kan­ten Ände­run­gen gibt, wenn zwi­schen armen und rei­chen Per­so­nen unter­schie­den wird. So besit­zen auch ärmere Per­so­nen der „domi­nan­ten sozia­len Gruppe“ mehr Sicher­hei­ten, als die wohl­ha­bends­ten der benach­tei­lig­ten sozia­len Gruppe der „Blacks“.

Dabei wird deut­lich, dass die Dis­zi­plin der Lebens­stan­dard­mes­sung sich auch die­sen Ungleich­hei­ten, wel­che sich im Ver­lust des Sicherheitsgefühls/Verlust des Ver­trau­ens in den Staat, fernab von öko­no­mi­schen Ungleich­hei­ten stel­len muss. Für die wohl­ha­ben­den Mit­glie­der der benach­tei­lig­ten Gruppe bedeu­tet ein abneh­men­des Ver­trauen in Sicher­heits­or­gane zwar keine öko­no­mi­schen Nach­teile, jedoch ganz sicher eine Beein­träch­ti­gung ihrer Lebens­qua­li­tät, da dies zu einem Rück­gang ihrer per­sön­li­chen Frei­heit füh­ren kann. Addi­tiv kann auch die indi­vi­du­elle Pro­duk­ti­vi­tät durch den Ver­lust des Sicher­heits­ge­fühls begrenzt wer­den, was wie­derum in öko­no­mi­sche Nach­teile resul­tie­ren könnte.

Ange­sichts der beschrie­be­nen vor­han­de­nen inter­sek­tio­na­len Unter­schiede zwi­schen Per­so­nen einer Gesell­schaft wird erkenn­bar, dass für die Lebens­stan­dard­mes­sung nicht der Durch­schnitt der Gesamt­ge­sell­schaft das Maß der Dinge sein sollte. Viel­mehr ist der soziale Kon­text der ein­zel­nen Per­so­nen zu betrach­ten und – wie durch die stra­ti­fi­ca­tion eco­no­mics betont – , die Inter­sek­tio­na­li­tä­ten inner­halb der Gesell­schaft wich­tig für die Bewer­tung des jewei­li­gen Lebensstandards.

Abschlie­ßend bleibt zu hin­ter­fra­gen, warum in der deutsch­spra­chi­gen For­schungs­land­schaft die Dis­zi­plin der „stra­ti­fi­ca­tion eco­no­mics“ bis­her auf so wenig Anklang gesto­ßen ist, trotz gro­ßer Ver­mö­gens­un­gleich­heit in der deut­schen Gesell­schaft, der Chan­cen­un­gleich­heit im deut­schen Bil­dungs­sys­tem oder der Unter­re­prä­sen­ta­tion von Per­so­nen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund im aktu­el­len Bundestag.

1 Sozio­öko­no­mi­sche Ungleich­hei­ten bezie­hen sich bspw. auf Unter­schiede in Ein­kom­men, Bil­dung, Beschäf­ti­gung, Res­sour­cen­zu­gang inner­halb einer Gesell­schaft. Diese Ungleich­hei­ten kön­nen durch Fak­to­ren wie soziale Klasse, eth­ni­sche Zuge­hö­rig­keit, Geschlecht oder andere soziale Merk­male geprägt sein. Dabei kön­nen diese lang­fris­tige Aus­wir­kun­gen auf das Wohl­erge­hen und die Chan­cen­gleich­heit jener Indi­vi­duen haben und zu struk­tu­rel­ler Benach­tei­li­gung und Armut füh­ren.

Chelwa, G./Hamilton, D./Stewart, J. (2022): Stra­ti­fi­ca­tion Eco­no­mics: Core Con­s­tructs and Policy Impli­ca­ti­ons. In: Jour­nal of Eco­no­mic Lite­ra­ture 60, Aus­gabe 2, S.377–399.

Darity Jr., W.A. (2022): Posi­tion and Pos­ses­sion: Stra­ti­fi­ca­tion Eco­no­mics and Inter­group Ine­qua­lity. In: Jour­nal of Eco­no­mic Lite­ra­ture 60, Aus­gabe 2, S.400–426.

Darity Jr., W.A./Mullen, K. (2020): From Here to Equa­lity: Repa­ra­ti­ons for Black Ame­ri­cans in the Twenty-First Century.

Stelz­ner, M/Beckert, S. (2021): The Con­tri­bu­tion of Ens­laved Workers to Out­put and Growth in the Ante­bel­lum United Sta­tes. Washing­ton Cen­ter for Eco­no­mic Growth. Working Paper 062421.