Klimawandel, Digitalisierung, Bildung, sozialer Zusammenhalt – Perspektiven zu diesen zentralen Herausforderungen entwickelt Achim Truger in seiner Rede zum Festakt der Stadt Duisburg am Tag der deutschen Einheit 2021
Festrede zum Tag der Deutschen Einheit 2021
Duisburg, 3. Oktober 2021
- Es gilt das gesprochene Wort -
ehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Duisburgerinnen und Duisburger!
Ich darf mich als erstes sehr herzlich für die Einladung zu diesem Festvortrag bedanken. Es ist mir eine große Ehre und es bedeutet mir sehr viel. Ich bin ja erst vor zweieinhalb Jahren aus Berlin an die Universität Duisburg-Essen gewechselt, an das neu gegründete Institut für Sozioökonomie hier in Duisburg. Und ich muss Ihnen sagen, dass ich mich extrem wohl und sehr gut aufgenommen fühle in Duisburg. Ich möchte auch betonen, dass die Universität, und im Besonderen unser neues Institut für Sozioökonomie mit dem gleichnamigen neuen Masterstudiengang und dem Promotionskolleg zur Politischen Ökonomie der Ungleichheit in nur zwei Jahren Corona zum Trotz schon viele junge Menschen aus ganz Deutschland, aber auch aus dem Ausland, vor allem Österreich nach Duisburg und in die Region geführt hat, die sonst sehr wahrscheinlich nicht gekommen wären. Aus vielen Gesprächen kann ich berichten, dass sich die Studierenden hier ebenfalls sehr wohl fühlen und trotz aller Corona-Probleme und Sorgen allesamt sehr positiv überrascht von Duisburg sind.
Audiomitschnitt der Rede von Achim Truger (© Stadt Duisburg)
Ich habe mir natürlich intensiv Gedanken gemacht, was ich Ihnen anlässlich des Festtags heute vortragen könnte. Augenblicklich treten wir im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in die heiße Phase der Konjunkturprognose und der Formulierung unseres Jahresgutachtens ein. Aber ich will Sie zu einem solchen Anlass heute nicht mit Prognoselyrik über die Seitwärtsbewegung der Konjunktur oder Momentaufnahmen über die derzeitige Verzögerung des Aufschwungs und die erneut zweigeteilte Konjunktur langweilen.
Ein Thema, das gerade für die Stadt Duisburg und die Region wichtig ist und mir sehr am Herzen liegt, wäre die Lage der öffentlichen Finanzen angesichts der Corona-Pandemie und insbesondere die Herausforderungen für die Kommunalfinanzen. Darüber möchte ich tatsächlich auch kurz etwas sagen, aber ich möchte es erst gegen Ende der Rede tun – dem Anlass eines historischen Ereignisses wie der Deutschen Einheit angemessen – eingebettet in größere und grundsätzlichere Zusammenhänge.
Deshalb habe ich mir als – wie ich hoffe angemessenes – Thema die Bewältigung der großen ökonomischen Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft stehen, gesetzt. Wenn ich von wirtschaftlichen Herausforderungen spreche, dann ist klar, dass es nicht rein ökonomische Herausforderungen sind, es sind immer automatisch auch gesellschaftliche. Genau dafür steht im Übrigen ja die sozioökonomische Perspektive. Im Titel „Die Herausforderungen bewältigen – gemeinsam und schrittweise“ habe ich bereits eine Kurzfassung meiner Antwort gegeben, ich meine nämlich, dass die Herausforderungen nur gemeinsam und schrittweise bewältigt werden können. Und genau das möchte ich Ihnen nun begründen. Dazu werde ich erst kurz etwas zu den großen Herausforderungen sagen, vor denen unsere Gesellschaft steht, dann erläutere ich, was ich mit schrittweise meine, und dann, was gemeinsam bedeuten soll, und warum es nur gemeinsam geht.
Skizze der Herausforderungen
Die Herausforderungen sind in der Tat groß und wie der Wahlkampf gezeigt hat und wie die nun beginnende Phase der Regierungsbildung weiterhin zeigt, sind sie auch längst im allgemeinen Bewusstsein angelangt. Als erstes wäre zu nennen die Bekämpfung des Klimawandels. In ziemlich kurzer Zeit muss der Ausstoß an Treibhausgasen drastisch vermindert und dann bis 2045 zügig weiter auf Null reduziert werden. Damit verbunden ist eine weitreichende sozialökologische Transformation der Industrie mit weitreichenden struktur- und regionalpolitischen Konsequenzen.
Eine drastische Reduktion des Treibhausgasausstoßes ist nötig – doch wie muss dieser Prozess gestaltet werden? Foto von Chris LeBoutillier auf Unsplash .
Wie nicht zuletzt die Corona-Krise schmerzhaft verdeutlicht hat, bestehen zudem große Herausforderungen zweitens bei der Digitalisierung von Wirtschaft und Verwaltung. Die uralten Faxgeräte in den Gesundheitsämtern stehen sinnbildlich für die mangelhafte Digitalisierung. Aber nicht nur die öffentliche Verwaltung, sondern auch die Wirtschaft, vor allem kleine und mittlere Unternehmen stehen im internationalen Vergleich bei der Digitalisierung und der Datenökonomie relativ schlecht da.
Die dritte große Herausforderung betrifft das Bildungssystem. Im Corona-Lockdown haben sich große Schwächen offenbart. Einmal war die Digitalisierung nicht wirklich an den Schulen verankert. Vor allem aber sind gerade die ohnehin benachteiligten Schülerinnen und Schüler noch weiter abgehängt worden. Die entstandenen Bildungslücken sind nicht nur für die individuellen Biographien und Einkommen schmerzhaft, sie schmälern auch langfristig die gesamtwirtschaftliche Produktivität und verschärfen die Probleme des Fachkräftemangels und der demografischen Entwicklung.
Schließlich möchte ich noch die Herausforderung des sozialen Zusammenhalts hervorheben, denn trotz der recht guten wirtschaftlichen Entwicklung vor der Corona-Krise hat sich die Einkommensungleichheit seit der Deutschen Einheit sehr deutlich vergrößert. Es bestehen weiterhin vielfältige wirtschaftliche und soziale Benachteiligungen, die regionalen Unterschiede sind groß, in vielen Städten herrscht Wohnungsnot, die kommunale Infrastruktur ist oft in einem schlechten Zustand. Und ich erwähne es wenigstens kurz: Die ökonomische und soziale Polarisierung führt auch zu politischer Benachteiligung und Polarisierung, die durchaus Gefahren für die Demokratie birgt.
Also: Klimawandel, Digitalisierung, Bildung, sozialer Zusammenhalt: Wie kann man diese Herausforderungen bewältigen? Ich kann Ihnen hier keine fertig ausgearbeiteten Lösungskonzepte vorlegen und kleinteilig verschiedene Instrumente diskutieren. Nur so viel: Ich bin sehr überzeugt, dass es vernünftige Lösungen gibt und sich der notwendige Wandel wirtschafts- und sozialverträglich gestalten lässt. Aus meiner Sicht ist ein wesentlicher Teil der Lösung eine massive, aber gezielte öffentliche und private Investitionsoffensive, so etwas wie ein Jahrzehnt der Investitionen im weiten Sinne in den verschiedensten Bereichen.
Worauf es mir heute ankommt, ist aber die allgemeine Herangehensweise, die Einstellung gegenüber den Herausforderungen und die Anforderungen an den Prozess, der zu erfolgversprechenden Lösungen führen soll. Und ich meine, dass das nur gemeinsam und schrittweise gehen wird.
Achim Truger ist Professor am ifso und Mitglied im Sachverständigenrat Wirtschaft der Bundesregierung. Seine Schwerpunkte: Deutsche und europäische Steuer- und Finanzpolitik
Bewältigung: warum schrittweise?
Ich beginne mit dem „schrittweise“: Warum möchte ich mir die Bewältigung gerne schrittweise vorstellen? Angesichts der Größe der Herausforderungen mag das zunächst vielleicht widersprüchlich erscheinen. Muss man nicht extrem ehrgeizig sein und muss man nicht sofort und ganz schnell ganz viel machen? Es stimmt, dass die Politik schnell konkrete und ehrgeizige Pläne schmieden muss. Das heißt aber nicht, dass dann alles radikal in einem Ruck umgesetzt werden muss. Es ist ökonomisch und sozial viel klüger, zwar systematisch nach einem klaren Konzept, aber schrittweise vorzugehen. Mehrere kleine oder mittelgroße Schritte erreichen die Ziele, ohne die Menschen und das Wirtschaftssystem unter Stress zu setzen, zu überfordern und Brüche, hohe Arbeitslosigkeit oder Inflation zu riskieren. Es wird Zeit zur Anpassung gegeben, in der sich alle auf die neue Situation einstellen können.
Ein Beispiel ist die CO2-Bepreisung. Es ist klar, dass dem CO2-Preis eine ganz wesentliche Rolle – aber bei weitem nicht die alleinige Rolle – bei der Reduktion der Treibhausgase zukommen muss, und dass der Preis erheblich wird steigen müssen. Es bringt aber wenig, den Preis sofort sehr stark hochzusetzen. Viel effektiver ist es, glaubwürdig eine Preiserhöhung anzukündigen und diese dann schrittweise zu realisieren. Dann ist klar, worauf es hinausläuft, es bleibt aber Zeit, nach Alternativen zu suchen, durch Infrastruktur oder Förderprogramme auch Ausweichmöglichkeiten zu schaffen und sich anzupassen.
Tatsächlich sind solche Prozesse des stetigen und abgefederten Wandels in der sozialen Marktwirtschaft eigentlich der Normalfall, und wenn man sich überlegt, wie wir heute leben und arbeiten, so wäre manches davon vor wenigen Jahrzehnten überhaupt gar nicht denkbar gewesen. Durch den allmählichen Wandel ist es aber bewältigbar und zu Normalität geworden.
So formuliert mag meine Forderung, es solle bitte schrittweise vorgegangen werden, eigentlich fast banal erscheinen. Sie ist mir aber sehr wichtig, weil mir immer wieder auch ganz andere Ideen begegnen, die ich tatsächlich für irreführend und falsch halte. Da wird dann nämlich angesichts der Größe der Herausforderungen häufig betont, es könne alles gar nicht schnell und radikal genug gehen, wir müssten die Gesellschaft radikal umkrempeln, wir bräuchten einen völlig neuen „Gesellschaftsvertrag“. Ich glaube, dass man durch solch große Worte zwar sicherlich rhetorische Erfolge erzielen und beeindrucken kann. Vor allem aber überfordert und erschreckt man die Menschen, man schreckt sie ab, was zur Lösung der Probleme sehr wenig beiträgt.
Ich halte eine solche Radikalität auch erkenntnistheoretisch für verfehlt und zwar deshalb, weil es kein sicheres Wissen über die Wirkung ökonomischer und sozialer Instrumente und Maßnahmen gibt. Dem entgegensetzen möchte ich den Ansatz des großen österreichisch-britischen Philosophen Karl Raimund Popper, der sich für eine „Stückwerk-Sozialtechnik“ aussprach. Diese kann zwar durchaus weitreichende Veränderungen anstreben, soll aber bewusst in kleinen Schritten vorgehen. Diese lassen sich nämlich notfalls auch wieder zurücknehmen und korrigieren, wenn sich zeigt, dass die Maßnahmen nicht funktionieren oder schwerwiegende Nebenwirkungen haben. Ein konkretes Beispiel für eine solche Vorgehensweise ist beispielsweise die Einführung und Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns. Auch wenn es in der deutschen Debatte häufig etwas verzerrt dargestellt wurde, sind beschäftigungsschädliche Wirkungen des Mindestlohns unterhalb einer Schwelle von gegenwärtig etwa 12 bis 13 Euro nicht zu erwarten. Aus diesem Grund halte ich eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro nicht nur sozialpolitisch für sehr gut begründbar, sondern auch beschäftigungspolitisch für unproblematisch. Allerdings gibt es eben kein sicheres Wissen. Deshalb finde ich es sinnvoll, die Mindestlohnanpassung auf 12 Euro vorsichtshalber in z.B. drei Schritten bis zum Jahr 2023 zu strecken, statt sie sofort morgen zu vollziehen. Sollten doch Probleme auf dem Arbeitsmarkt auftreten, kann man noch eingreifen und die Pläne gegebenenfalls modifizieren.
Karl Popper in den 1980 Jahren. LSE library, No restrictions, via Wikimedia Commons.
Ich möchte noch einmal auf Karl Poppers Stückwerk-Sozialtechnik zurückkommen. Er entwarf sie 1944 ganz unter dem Eindruck totalitärer Régime und Bedrohungen und wandte sich damit explizit gegen revolutionäre Utopien, die im festen Glauben an angeblich wissenschaftlich bewiesene historische Gesetze glaubten, Wirtschaft und Gesellschaft durch Revolution oder radikale Schritte umformen zu können. Damit wandte er sich explizit gegen den wissenschaftlichen Sozialismus, der für sich in Anspruch nahm, die historischen Gesetzmäßigkeiten offengelegt zu haben. Poppers Kritik daran und die dem entgegengesetzte, aus der Fehlbarkeit menschlichen Wissens abgeleitete Stückwerk-Sozialtechnik prägten in der Zeit des Kalten Krieges und bis heute die freien westlichen Demokratien in bewusster Opposition zu radikalen oder gar totalitären Ideen. Übrigens war Helmut Schmidt ein großer Anhänger von Karl Poppers Philosophie und bekannte sich explizit zur Stückwerk-Sozialtechnik.
Was gerade heute wichtig ist: Die Anwendung dieses Konzeptes ist unseren freien und demokratischen Gesellschaften offenbar gut bekommen, während der Versuch der Umsetzung radikaler Utopien in den ehemals sozialistischen Staaten auf ganzer Linie gescheitert ist. Dass wir uns also am heutigen Feiertag, über die Deutsche Einheit in Freiheit und Demokratie freuen dürfen, hat meines Erachtens auch viel mit der Stückwerk-Sozialtechnik und der Politik der kleinen Schritte zu tun, auch wenn die Begriffe vielleicht etwas unspektakulär oder gar langweilig klingen mögen.
Ich hoffe, dass ich damit hinreichend erläutert habe, warum mir das „schrittweise“ bei der Bewältigung der Herausforderungen so wichtig ist.
Bewältigung: warum gemeinsam?
Damit komme ich zu dem Punkt „gemeinsam“. Was meine ich damit, wenn ich sage, dass die Herausforderungen nur gemeinsam bewältigt werden können? Dass ich diesen Begriff in den Mittelpunkt meiner Rede stelle, ist dadurch angeregt, dass wir im Sachverständigenrat für unser Jahresgutachten im November letzten Jahres den Titel „Coronakrise gemeinsam bewältigen – Resilienz und Wachstum stärken“ gewählt haben. Das war übrigens meines Wissens nach, das erste Mal, dass ein Jahresgutachten das Wort „gemeinsam“ im Titel führte. Wir hatten darüber diskutiert und konnten uns gut darauf einigen, verstanden darunter allerdings teilweise sehr unterschiedliche Dinge. Ich will Ihnen meine Interpretation darlegen.
Erstens steht das Wort „gemeinsam“ für mich dafür, dass es sich bei den Herausforderungen tatsächlich um gesellschaftliche Herausforderungen handelt, die nur gemeinschaftlich, d. h. kollektiv mittels demokratischer Institutionen, von denen die wichtigste der Staat ist, bewältigt werden können. Das heißt nicht, dass der Staat alles machen muss oder auch nur kann. Es ist aber klar, dass politische Konzepte demokratisch gestaltet und umgesetzt werden müssen. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, ich sage es nur deshalb, weil das gelegentlich vergessen wird. Auch wenn ich durchaus ein Anhänger so genannter marktwirtschaftlicher Instrumente im Klimaschutz bin: Dabei löst ja nicht der Markt oder die Marktwirtschaft die Probleme, sondern es ist der Staat, der demokratisch legitimiert die Ziele und Rahmenbedingungen – also auch den CO2-Preis – vorgibt und so die Marktkräfte in den Dienst gesellschaftlicher, also gemeinsam geteilter Ziele stellt.
Zweitens betont für mich das Wort gemeinsam besonders die Notwendigkeit des sozialen Ausgleichs. Wirtschaftlicher Wandel, egal, ob er sich spontan ergibt oder bewusst herbeigeführt wird, führt immer zu GewinnerInnen und VerliererInnen. Das können einzelne Menschen sein, es können aber auch Branchen, Städte, Regionen oder ganze Volkswirtschaften sein. Und aus meiner Sicht ist es ganz zentral, dass es Ausgleichsmechanismen zum Schutz der VerliererInnen gibt.
Dass die GewinnerInnen die VerliererInnen kompensieren können und eigentlich auch sollten, ist fester Bestandteil der Theorie des internationalen Handels und ein Grund für die Befürwortung des Freihandels. Und selbstverständlich gibt es in Deutschland zahlreiche Ausgleichs- und Kompensationsmechanismen, ein progressives Steuersystem, bei dem starke Schultern mehr tragen als schwache, einen ausgeprägten Sozialstaat, eine Industriepolitik, nicht zuletzt ein Finanzausgleichssystem zwischen finanzstarken und finanzschwachen Bundesländern und Kommunen. Mir ist es wichtig, dass dies so bleibt und ich glaube, dass diese Ausgleichsmechanismen für die anstehenden Herausforderungen und die ökologische und digitale Transformation sogar weiter gestärkt werden müssen. Niemand soll zurückgelassen werden, sonst verlieren die Prozesse ihre Legitimation und am Ende werden die Herausforderungen nicht bewältigt.
Das Problem mit solchen Ausgleichsmechanismen sind natürlich immer mögliche negative Anreizeffekte. Sinkt nicht die Leistungsbereitschaft gleichermaßen der Erfolgreichen, wie der VerliererInnen, wenn man denen, die viel geleistet haben, etwas wegnimmt, und denen, die weniger oder nichts geleistet haben, einfach etwas gibt? Ich will diese Anreizlogik nicht grundlegend in Frage stellen und ganz klar machen, dass es natürlich Grenzen der Umverteilung gibt. Allerdings sollte man die möglichen negativen Effekte auch nicht überbewerten. Und in vielen Fällen stimmt die einfache Logik aus den ersten 2–3 Kapiteln der Einführungslehrbücher schlicht nicht. Es ist nicht immer so, dass diejenigen, die viel verdienen oder viel haben, auch selbst besonders viel geleistet haben und diejenigen, die weniger haben, auch entsprechend weniger geleistet haben. Oft spielen ungleiche Startchancen, Marktmacht oder einfach Glück oder Pech mindestens eine ebenso große Rolle. Je offensichtlicher solche nicht-marktlichen und nicht leistungsbezogenen Elemente sind, desto einfacher lassen sich auch Ausgleichsmechanismen aus Solidaritätsgründen politisch legitimieren.
Ich nenne Ihnen drei Beispiele, bei denen dies offensichtlich ist: Die Corona-Pandemie, die jüngste Flutkatastrophe – und die Deutsche Einheit. Bei solchen Unglücksfällen oder historischen Glücksfällen ist klar, dass es so gut wie keine individuelle oder regionale Verantwortung gibt, weshalb auch solidarisch Hilfe geleistet wurde und wird.
Dasselbe müsste aus meiner Sicht auch für den künftig sich ergebenden Wandel etwa durch die Dekarbonisierung ergeben. Dieser Wandel ist ja gesellschaftlich gewollt und herbeigeführt, weshalb sich unmittelbar auch eine gesellschaftliche Verantwortung für mögliche VerliererInnen ergibt.
Kommunalfinanzen – sozialer und regionaler Ausgleich angesichts großer Herausforderungen notwendig
Zum Abschluss möchte ich nun – wie eingangs erwähnt – endlich noch kurz auf ein weiteres, leider etwas unglücklicheres Beispiel eingehen, nämlich die Kommunalfinanzen in Nordrhein-Westfalen und insbesondere im Ruhrgebiet. Denn obwohl hier ähnlich wie in den genannten anderen Beispielen weitaus stärkere Ausgleichsmechanismen angebracht gewesen wären und weiterhin wären, ist eine solidarische Verantwortung in diesem Fall bislang nicht in vergleichbarem Umfang anerkannt worden. Auf dem Höhepunkt der kommunalen Finanzkrise 2010 wurde die kommunale Überschuldung eher als individuelles Versagen der jeweiligen kommunalen Haushaltspolitik angesehen, die einfach die notwendige sparsame Haushaltsführung nicht hinbekommen hat. Nun ist es sicher so, dass überall auch Fehler gemacht worden sind und sicher an der einen oder anderen Stelle effizientere Politik möglich gewesen wäre.
Schaut man aber auf das große Ganze, müsste eigentlich unübersehbar sein, dass es extrem unplausibel ist, dass es ein kommunales Verschuldungsgen im Ruhrgebiet und beispielsweise dem Saarland oder Teilen von Rheinland-Pfalz oder Hessen geben soll, während es in Bayern oder Baden-Württemberg eine natürliche Veranlagung zur sparsamen Haushaltsführung geben soll. Es ist offensichtlich, dass die Finanzprobleme größtenteils Resultat des globalen Strukturwandels waren. Gegen den globalen Strukturwandel und seine ökonomischen und sozialen Auswirkungen kann man aber nicht mit dem kommunalen Rotstift ankürzen! Das ist eine Aufgabe, die die einzelnen Kommunen, aber auch die Regionen und Bundesländer überfordert. Es ist eine gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe, hier für Ausgleich zu sorgen. Dies ist in den vergangenen etwa zehn Jahren schrittweise auch immer mehr anerkannt worden. Eine Altschuldenregelung und weitere Unterstützung wegen der Einnahmenausfälle durch die Coronakrise stehen noch aus – egal, ob nun von Seiten des Bundes oder des Landes! Es ist in Duisburg schon Unglaubliches unter schwierigsten Bedingungen geleistet worden. Wie könnte das erst aussehen, wenn die Bedingungen noch etwas besser gemacht würden!
Der Duisburger Innenhafen bei Nacht. „Innenhafen Duisburg“ von Sebastian CC BY 2.0, via flickr.com.
Es ist meine Hoffnung, dass im Zuge der anstehenden Transformation das Bewusstsein für den notwendigen sozialen und regionalen Ausgleich weiter zunehmen wird und dass davon auch die Kommunen in NRW und insbesondere Duisburg am Ende profitieren werden. Vielleicht wird dieses Bewusstsein in dem Maße zunehmen, wie die bisherigen Gewinnerregionen in Baden-Württemberg und Bayern realisieren, dass sie kein Abo auf die Gewinnerrolle haben und auch einmal negativ vom Strukturwandel betroffen und auf Unterstützung angewiesen sein könnten.
Die zentrale Bedeutung des sozialen Ausgleichs und damit des „gemeinsam“ in meinen Überlegungen sollte jedenfalls nun ebenfalls hinreichend klar geworden sein.
Damit komme ich zum Schluss: Ich habe Ihnen heute an diesem besonderen Tag dargelegt, welche beiden Prinzipien mir bei der Bewältigung der großen ökonomischen und sozialen Herausforderungen wichtig sind.
Gemeinsam und schrittweise sollten wir die Dinge angehen!
Ich optimistisch, dass dies gelingen kann und am Ende erfolgreich sein wird!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Kurz zusammengefasst
Die großen gesellschaftlichen Herausforderungen – Klimawandel, Digitalisierung, Bildung, sozialer Zusammenhalt – lassen sich nur gemeinsam bewältigen. Von zentraler Bedeutung ist dafür eine massive, gezielte öffentliche und private Investitionsoffensive. Die Ziele müssen demokratisch legitimiert und sozial ausgeglichen verfolgt werden. Außerdem ist mangels sicheren Wissens über die Wirkung ökonomischer und sozialer Instrumente und Maßnahmen ein schrittweites Vorgehen sinnvoll, auch und gerade wenn die angestrebten Veränderungen weitreichend und drängend sind.